Baghuz, Syrien. Mit der laufenden Offensive gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien war die Hoffnung groß, dass tausende vermisste êzîdîsche Frauen und Kinder gerettet werden können. Vor fast fünf Jahren verschleppte und versklavte die IS-Terrororganisation bis zu 7.000 ÊzîdInnen aus der nord-irakischen Region Shingal und verübte einen Völkermord an der Zivilbevölkerung. Viele vermuteten, dass der Großteil der Vermissten in der letzten Stellung des IS im ost-syrischen Baghuz gefangen gehalten würde. Die Freude, dass bisher rund 60 ÊzîdInnen in Baghuz aus der Gefangenschaft entkommen konnten, ist groß und nährte die Hoffnung zunächst. Doch das Schicksal hunderter Kinder scheint unumkehrbar besiegelt zu sein. Eine brutale Realität, der sich die angeschlagene Minderheit der Êzîden stellen und die internationale Gemeinschaft sich vorwerfen lassen muss.
Die Zahl der noch vermissten ÊzîdInnen beträgt einer offiziellen Liste zufolge etwa 3.000, darunter vor allem Frauen und Kinder. Die Versklavung, systematische Vergewaltigung und der Menschenhandel mit den Êzîden war wesentlicher Bestandteil der IS-Ideologie, mit der die „Wiedereinführung der islamischen Tradition der Sklaverei“ im IS-Magazin „Dabiq“ gefeiert wurde. Die Entführung tausender Kinder und die massenhafte Vergewaltigung von êzîdîschen Frauen und Mädchen war von Beginn des Völkermordes an geplant. Die New York Times bezeichnete das Vorgehen des IS als die „Theologie der Vergewaltigung“.
Êzîdîsche Kinder wurden von ihren Familien getrennt und in IS-Haushalten nach Syrien und Irak überführt. Sie sollten fortan als Muslime erzogen werden. Die gewaltsame Überführung von Kindern in eine andere Gruppe ist nach der UN-Konvention ein Völkermordtatbestand. Den Kindern sollte ihre êzîdîsche Identität genommen werden. In Gefangenschaft wurde ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, ihnen wurden neue, arabisch-islamische Namen gegeben. Wie streng sich der IS an der Auslegung seiner Interpretation des Korans und der Hadithe orientierte, zeigt das Beispiel vergewaltigter êzîdîscher Mädchen. Ihre Vergewaltigung sei erst ab dem neunten Lebensjahr erlaubt, erklärten die Prediger des IS – und erteilten der Pädophilie damit einen Freibrief. Befreite Mädchen und Frauen berichten übereinstimmend, wie IS-Mitglieder sich nach dieser Doktrin richteten. „Er fesselte meine Hände [am Bett fest] und knebelte mich. Dann kniete er neben dem Bett und warf sich zum Gebet nieder“, erklärt die 12-jährige Êzîdin. „Nach dem Gebet vergewaltigte er mich. Danach betete er erneut“. Weibliche IS-Mitglieder, die die versklavten ÊzîdInnen in ihren Haushalten ebenso misshandelten, legitimieren die Versklavung und Vergewaltigung der Frauen und Mädchen bis heute.
Die êzîdîschen Jungen hingegen sollten zu neuen Dschihadisten erzogen werden. Tägliche Indoktrination mit gewaltverherrlichenden Videos von Enthauptungen und Selbstmordattentaten sollten ihnen jegliche Hemmungen nehmen und ihren Willen brechen. Wenn sich die Jungen weigerten, bestrafte der IS sie mit körperlicher und seelischer Folter. Viele dieser Kinder mussten mit ansehen, wie ihre Eltern vor ihren Augen ermordet wurden. Ein Trauma, das für diese jungen Seelen kaum zu verarbeiten ist und sie anfällig für Manipulationen machte. Mehrere dieser misshandelten êzîdîschen Jungen entsandte der IS im Irak und Syrien als Kämpfer und Selbstmordattentäter an die Kriegsfront. Im Jahr 2015 veröffentlichte der IS ein Propagandavideo, in dem zwei entführte êzîdîsche Jungen im Alter von 11 und 12 Jahren Selbstmordattentate gegen irakische Truppen verübten. Das Video veröffentlichte der IS an einem êzîdîschen Feiertag. Beide Jungen starben.
Die jahrelange körperliche und seelische Misshandlung führte dazu, dass viele dieser Kinder kaum noch ihre Muttersprache beherrschen und sich teilweise auch nicht an die Namen ihrer Eltern oder ihrer Dörfer erinnern können. Je jünger die Kinder zum Zeitpunkt ihrer Entführung waren, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, sie als verschleppte Êzîden identifizieren zu können. Unter den zehntausenden IS-Mitgliedern, die sich den kurdisch-syrischen Streitkräften in Baghuz ergeben haben, befinden sich weiterhin hunderte dieser Kinder. Anstrengungen, sie zu identifizieren, gibt es nicht. Sie werden ihrem Schicksal überlassen und dem IS damit ein Sieg eingeräumt. Auch wenn sie militärisch besiegt sind – hunderte der „ungläubigen“ Êzîden haben sie zu Muslimen gemacht.
Junge Kinder nach fast fünfjähriger Gefangenschaft wiederzuerkennen, ist auch für die Eltern, wenn sie überlebt haben, eine Herausforderung. Oftmals aber bekommen sie diese Gelegenheit überhaupt nicht, weil keine Fotos der Kinder, die sich bei den IS-Familien befinden und sich ergeben haben, gemacht werden. Noch werden DNA-Proben gesammelt, die einen Abgleich ermöglichen würden. Dass viele der vermissten Kinder mit einfachen Bildern zu identifizieren wären, zeigen Beispiele wie sie die ÊP-Redaktion in den vergangenen Tagen vorliegen hatte.
Binnen weniger Stunden konnten Familienangehörige mehrerer in Baghuz befreiter Kinder, die sich glücklicherweise an ihre Herkunft erinnerten, ausfindig gemacht werden. Im Fall des Jungen Farhad benötigte die ÊP-Redaktion exakt neun Minuten, um den Onkel sowie die bei dem Onkel lebende Mutter des Jungen zu finden. Hierfür reichte das Bild des Jungen aus. Im Fall des 10-jährigen Dilbirin benötigten ÊP-Redakteure acht Minuten, um eine Cousine, die sich im Baden-Württembergischen Programm befindet, ausfindig zu machen.
Bei vielen Kindern aber wäre die Identifizierung nur mit einem DNA-Test möglich. Eine solch breit angelegte DNA-Suche nach vermissten êzîdîschen Kindern wird es aber nicht geben. Zu groß wäre der Aufwand für die Anti-IS-Koalition und zu gering ist das Interesse an der êzîdîschen Gemeinschaft. Die Êzîden selbst haben weder die Mittel, solche Anstrengungen selbst durchzuführen, noch verfügen sie über den politischen Einfluss, eine solche Mammutaufgabe gegenüber der internationalen Gemeinschaft einzufordern.
Nur selten gelingt es daher Familienangehörigen, ihre jüngsten Mitglieder zu befreien, wenn ihre Spur nicht verloren gegangen ist. In einem der jüngsten Fälle verfolgte ein Onkel die Spur seines Neffen so lange, bis er ihn gegen eine horrende Lösesumme in Höhe von 30.000 US-Dollar freikaufen konnte. Der 10-jährige Kiran verbrachte sein halbes Leben in Sklaverei. Auch er wurde umbenannt in Ahmed. Sein Vater, erzählt Kiran, wurde von IS-Terroristen vor seinen Augen getötet, seine Schwester als Sklavin verkauft. Seine Mutter, die zunächst mit ihm ins syrische Baghuz verschleppt wurde, starb kurz darauf. Kirans Onkel verfolgte die Spur seines Neffen weiter, bis sich die Gelegenheit ergab, ihn freizukaufen.
Selten können die Familien bei der Möglichkeit, ihre Angehörigen freizukaufen, derartige Summen aufbringen. Das eigens zu diesem Zweck gegründete „Büro zur Rettung von entführten und verschleppten Yeziden“ in der kurdischen Stadt Duhok, das dem Büro des Ministerpräsidenten unterstellt ist, sollte sich dieser Problematik annehmen und das Lösegeld zahlen. Die kurdische Regierung rühmte sich in der Vergangenheit mehrfach mit der Arbeit des Büros. Betroffene Familien aber müssen dem Büro jedoch 10.000 US-Dollar vorstrecken, ehe dieses aktiv wird. Auch diese Summe ist für viele der verarmten Familien, die bis heute in Flüchtlingslagern leben, nicht aufzubringen. Ohne die Hilfe êzîdîscher NGOs, die das Geld vorstrecken, wäre ein Freikauf für viele Familien schier unmöglich. Wenn der Freikauf reibungslos ablief, sollten die 10.000 US-Dollar an die Familien zurückgezahlt werden. In mindestens drei Fällen ist dies nicht geschehen. Die in der Region grassierende Korruption macht auch nicht vor jenem Büro halt. Auch seitens der irakischen Regierung gibt es keinerlei Anstrengungen, den Êzîden beim Auffinden und Freikauf ihrer vom IS entführten Angehörigen zu helfen.
Unbestätigten Berichten von Aktivisten zufolge sollen êzîdîsche Frauen und Kinder auch in andere islamische Länder verschleppt worden sein. Mehrere Aktivisten erklärten, ihnen lägen Aussagen und Berichte vor, die dies bestätigten. Zufluchtsort vieler IS-Kämpfer samt versklavter ÊzîdInnen ist die Türkei. Auch nach Saudi-Arabien sollen die ÊzîdInnen verschleppt worden sein. Einen bestätigten Fall gibt es bisher allerdings nicht.
Dass es möglich sei, im 21. Jahrhundert Dörfer zu überrennen, tausende Menschen zu versklaven, tausende junge Mädchen zu vergewaltigen und auf offener Straße zum Verkauf anzubieten, junge Kinder zu foltern und damit auch noch offen in einem Magazin zu prahlen, hätten viele für unmöglich gehalten oder die Vorstellungskraft überfordert. Doch genau das ist geschehen. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Und nun überlässt dieselbe Weltgemeinschaft tausende Kinder ihrem Schicksal, weil sie nicht willens ist, ihnen zu helfen.
In der Geschichte der Êzîden ist es nicht der erste Versuch, die Existenz Êzîden auf diese Art und Weise zu zerstören und sie psychisch zu foltern. Immer wieder wurden Frauen und Kinder in den vergangen Jahrhunderten verschleppt, um sie in eine islamische Umgebung zu überführen und ihnen ihre êzîdîsche Identität zu nehmen.
Bei dem aktuellen und andauernden Völkermord an den Êzîden bleibt ihnen daher nichts anderes übrig, als diese Realität qualvoll hinzunehmen. Êzîden, die wie Essa sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer Angehörigen warten, werden bitter enttäuscht werden. Auch dieser Völkermord wird die Êzîden über Generationen hinweg verfolgen. Gerechtigkeit kann es nur geben, wenn die Täter für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden: vor einem UN-Sondertribunal.