Shingal. Nach der Wahl des neuen religiösen Oberhauptes der Êzîden regt sich in Teilen der êzîdîschen Gemeinschaft zunehmend Kritik. Intellektuelle, Stammesführer und Befehlshaber der Êzîden kritisieren eine vermeintliche politische Einflussnahme auf den Wahlprozess des Bave Sheikh und werfen dem weltlichen Oberhaupt der Êzîden, Mîr Hazim Beg, vor, die Bedürfnisse der Êzîden parteipolitischen Zielen unterzuordnen. Kasim Shesho, Befehlshaber der êzîdîschen Peshmerga-Einheiten in Shingal und langjähriges Mitglied der PDK-Partei, gab am Montag seinen Rücktritt von beiden Posten bekannt.

Hintergrund

Am 1. Oktober 2020 verstarb das langjährige religiöse Oberhaupt der Êzîden, Bave Sheikh Khirto Haji Ismail, der das Amt seit 1995 ausübte. Nach êzîdîscher Tradition soll binnen 40 Tagen nach dem Tod des Bave Sheikh ein Nachfolger gewählt werden. Der Bave Sheikh ist die höchste religiöse Autorität und bestimmt wesentliche Beschlüsse zur Zukunft der Êzîden mit.

Der Nachfolger muss aus dem Familienzweig der Fakhredin-Sheikhs stammen. Voraussetzung ist, dass der Nachfolger über ein umfassendes theologisches Wissen der êzîdîschen Religion verfügt. Neben dem Sohn des verstorbenen Bave Sheikh, Ferhad Baba Sheikh, hat sich auch sein Cousin Ali Baba Sheikh zur Wahl gestellt. Die Ausübung des Amtes des Bave Sheikh wechselt seit Jahrzehnten zwischen beiden Familien. Beide Kandidaten gelten als geeignet.

Das religiöse Amt des Bave Sheikh ist zwar grundsätzlich ein spirituelles, aufgrund seiner Autorität und des Bestimmungsrechts betrifft es aber oft auch politische Fragen der êzîdîschen Gemeinschaft. Beide oben genannten Kandidaten haben sich in der Vergangenheit mehr oder weniger für die Standpunkte politischer Parteien in der Autonomen Region Kurdistan geäußert, ohne direkt Mitglieder einer Partei zu sein. Gleiches galt auch für den verstorbenen Bave Sheikh. Beide Familien sind in Teilen Mitglieder einer der beiden großen kurdischen Parteien der PDK und der PUK.

Der Bave Sheikh ist bei seinen Entscheidungen lediglich religiösen Geboten und seinem Gewissen unterworfen. Als religiöses Oberhaupt kann er sich aber auch politisch äußern und so Einfluss auf die êzîdîsche Gemeinschaft nehmen. Wie er sich äußert, hängt nicht von der Parteizugehörigkeit von Familienmitglieder ab, kann aber bei seinen Äußerungen eine Rolle spielen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich der Bave Sheikh von Familienmitgliedern beraten lässt.

In den Wochen vor der Wahl zum neuen Bave Sheikh kam es zwischen Anhängern der PDK und der PUK zu einem verbalen Schlagabtausch. Beide Seiten versuchten, ihre(n) Kandidaten auf die Liste der Anwärter zu setzen. Durchgesetzt haben sich letztlich êzîdîsche PDK-Funktionäre.

Am 14. November 2020 erklärte Mîr Hazim Beg, die Wahl sei auf Ali Elias Baba Sheikh gefallen. Er soll am Mittwoch den 18. November 2020 in das Amt eingeweiht werden.

Beide Kandidaten stehen nicht in dem Ruf, parteipolitisch zu agieren.

Kritik am Wahlprozess

Die Kritik richtet sich daher vor allem gegen den Wahlprozess und die Person Mîr Hazim Begs und damit nur indirekt gegen einen der beiden Kandidaten. Nach dem Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an der êzîdîschen Bevölkerung im Irak und Syrien und dem Zerfall der Autorität êzîdîscher Amtsträger in Politik und Religion, sollten Entscheidungen über die Zukunft der Êzîden sowie die Wahl von Autoritätspersonen durch gesellschaftlichen Konsens getroffen werden. Dies sollte durch ein êzîdîsches Parlament, in dem Vertreter aller Gruppen die êzîdîsche Gemeinschaft repräsentieren, sichergestellt werden.

Das Projekt, das von Mîr Tahsîn Beg – Vater des amtierenden Mîrs – auf Wunsch der Êzîden hin initiiert wurde, konnte aus politischen Gründen nicht umgesetzt werden. Die Anfragen des Mîr Tahsîn Beg an die kurdische PDK-Regierung, die auch von Hazim Beg überbracht wurden, wurden abgelehnt. Die PDK fürchtete um ihren Einfluss, sollten die Êzîden als Gemeinschaft über zukünftige Entscheidungen in demokratischer Mehrheit beschließen. Das Parlament, das seinen Sitz in bzw. nahe Lalish haben sollte, bedurfte der Zustimmung der PDK.

Nach der Wahl zum Mîr hofften die Êzîden unter Hazim Beg auf einen neuen politisch-unabhängigen Weg und um mehr demokratische Mitbestimmung der êzîdîschen Gemeinschaft. Mîr Hazim Beg aber gilt aufgrund seiner Zugehörigkeit zur PDK, für die er im kurdischen Parlament bereits als Abgeordneter tätig war, als politisch beeinflusst.

Nach der Wahl des Bave Sheikh erklärte Mîr Hazim Beg gegenüber Pressevertretern am Samstag den 14. November 2020, dass zwar keine einstimmige Wahl zur Nachfolge gefasst werden konnte, es darauf aber letztlich auch nicht ankäme. Er als weltliches Oberhaupt der Êzîden und Vorsitzender des Religiösen Rates entscheide letztlich alleine über die Nachfolge.

Mîr Hazim Beg machte damit klar, dass es unter seiner Führung keine Mitbestimmung der êzîdîschen Gesamtgesellschaft geben wird. Dass er sich für Ali Baba Sheikh als neuen Bave Sheikh entschieden habe, führen die Kritiker auf seine parteipolitische Zugehörigkeit zur PDK und deren Einflussnahme bei der Wahl und die Aufstellung der Kandidaten zurück.

Tatsache ist, dass die PDK sowohl bei der Wahl des Mîr als auch bei der aktuellen Wahl des Bave Sheikh über ihre êzîdîschen Parteifunktionäre versucht, direkten Einfluss auf Wahlen zu nehmen. So habe unter anderem der êzîdîsche PDK-Funktionär und ehemalige Abgeordnete im kurdischen Parlament, Sheikh Shamo, Mîr Hazim Beg wesentlich bei der Entscheidung beeinflusst.

Offener Brief

Mit einem offenen Brief haben sich êzîdîsche Intellektuelle, Vereine und einflussreiche Aktivisten – mehrheitlich aus der Diaspora  – an den Religiösen Rat gewandt, die Amtseinführung des Bave Sheikh zu verschieben. Die Unterzeichner fordern eine Aussprache mit allen êzîdîschen Amtsträgern, intellektuellen Persönlichkeiten, Stammesführern und Befehlshabern.

Insbesondere die Vertreter der Êzîden aus der Shingal-Region fühlen sich bei der Wahl übergangen. Diese seien bei der Aussprache in Lalish über die Nachfolge weder ausreichend angehört worden, noch habe man ihren Bedürfnissen Aufmerksamkeit gewidmet, heißt es in der Erklärung sinngemäß. Man sei nicht gegen die Wahl eines geeigneten Kandidaten; der Mîr hätte jedoch kein Recht, den Rest der Êzîden bei der Entscheidung zu ignorieren und damit den gesellschaftlichen Konsens zu übergehen. Ali Elias Baba Sheikh wird aufgefordert, die für Mittwoch geplante Einweihungszeremonie zunächst zu verzichten, um eine weitere Spaltung der êzîdîschen Gemeinschaft zu verhindern.

Das Amt des Bave Sheikh trage eine große moralische und historische Verantwortung mit sich, die gewahrt werden müsse, heißt es in dem Brief weiter.

Befehlshaber äußern sich kritisch, Qasim Sesho tritt zurück

Heydar Shesho, Oberbefehlshaber der HPÊ-Einheiten in Shingal, sagte dem gewählten Ali Baba Sheikh jegliche Unterstützung zu, kritisierte aber zusammen mit Stammesanführern der Êzîden aus Shingal zugleich ebenfalls den Wahlprozess durch Mîr Hazim Beg. Mîr Hazim Beg habe sich der Verantwortung für die gesamte êzîdîsche Gemeinschaft entzogen und den besonderen Bedürfnissen der Êzîden aus Shingal nach dem Völkermord durch seine parteipolitisch bedingte Entscheidung keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Zugleich zweifelte Heydar Shesho in Anwesenheit von über Hundert Befehlshabern und Stammesführern der Êzîden in Shingal die Autorität von Mîr Hazim Beg als weltliches Oberhaupt der Êzîden generell an. Hazim Beg sei ohne Zustimmung der êzîdîschen Mehrheit zum weltlichen Oberhaupt erklärt worden. Keiner Partei solle es erlaubt werden, in irgendeiner Art und Weise Einfluss auf Entscheidungen der Êzîden zu nehmen, so Heydar Shesho weiter.

Wie sehr die Worte Heydar Sheshos den Nerv vieler Êzîden treffen, zeigt sich auf den sozialen Netzwerken. Dort erfahren Heydar Sheshos Äußerungen breite Zustimmung. Das Vorgehen von Mîr Hazim Beg werde man nicht hinnehmen, so Heydar Shesho . Er fordert die Errichtung eines êzîdîschen Parlamentes für Vertreter aller êzîdîscher Gruppen, dem die Entscheidung obliegen solle. Auch die êzîdîschen Diaspora-Gruppen wie die Êzîden aus Georgien, Russland, Deutschland, Syrien, Türkei, Armenien und anderen Ländern hätten einen Anspruch darauf, bei der Entscheidung des Bave Sheikh mitzubestimmen.

In Folge der Einflussnahme der PDK durch Mîr Hazim Beg hat Qasim Shesho seinen sofortigen Rücktritt als Oberbefehlshaber der Peshmerga-Einheiten in Shingal sowie die Beendigung seiner langjährigen Mitgliedschaft in der PDK-Partei erklärt. Die PDK zeige keinerlei Respekt für die êzîdîschen Angelegenheiten, so Qasim Shesho in einer Videoerklärung am Montag. Die PDK habe die Êzîden in Shingal im Stich gelassen und ihre Peshmerga hätten im Kampf der Êzîden gegen den IS nichts beigetragen. Die Einflussnahme auf die Wahl des Bave Sheikh zeige erneut, dass die PDK keinen Respekt vor den Êzîden habe, so Qasim Shesho weiter. Qasim Shesho verzichtet damit auf die monatlichen Zuwendungen des Peshmerga-Ministeriums. Auch seine Erklärung wurde in den sozialen Netzwerken von vielen Êzîden massenhaft geteilt.

Auch Qasim Shesho sei für die Wahl von Ali Elias Baba Sheikh und hätte ihm bei einer ordnungsgemäßen Wahl persönlich gratuliert. Er habe vor ihm und seinen Vorfahren, die ebenfalls das Amt des Bave Sheikh ausübten, großen Respekt und zweifle nicht an seiner Eignung für das Amt des Bave Sheikh. Seine Wahl zum Bave Sheikh sei aber lediglich von Mîr Hazim Beg getroffen worden und spiegele damit nicht den Willen der êzîdîschen Gesellschaft wieder.

Zurück zum Status Quo vor 2014

Das parteipolitisch beeinflusste Handeln von Mîr Hazim Beg sowie die Missachtung des politischen Mitspracherechts der Êzîden über die Zukunft der Region Shingal durch die irakische und kurdische Regierung zeigt, dass keiner der Verantwortlichen Konsequenzen aus dem Völkermord vor 2014 zieht. Stattdessen kehrt der Status Quo vor 2014 in die politische Realität zurück, in dem die êzîdîsche Gemeinschaft von parteipolitischen Gezerre verschiedener Parteien zerrissen wurde. Die Shingal-Region war auch deswegen für den Angriff des IS so anfällig, weil den Êzîden zuvor keinerlei politische oder militärische Entscheidungsmacht über ihre Region übertragen wurde.

Mîr Hazim Begs Vater, Mîr Tahsin Beg, sagte in einem seiner viel zitierten Äußerungen in einem vertraulichen, von Wikileaks veröffentlichten US-Bericht aus dem Jahr 2008: „Die Êzîden werden unter der PDK wie Schnee unter der Sonne dahinschmelzen“. Aufgrund der geographischen Lage des zentralen Heiligtums Lalish und der umliegenden êzîdîschen Dörfer und Gemeinden im Herrschaftsgebiet der PDK, unterliegen sie dessen direkter Kontrolle.

Mîr Tahsîn Beg warnte letztlich vor einem Verhalten und Handeln, das parteipolitische Ziele über die Bedürfnisse der Gemeinschaft stellt – und damit vor Personen, wie seinem eigenen Sohn und Nachfolger. Mîr Hazim Beg verpasst die Chance, die Êzîden auf den Weg zu mehr Einheit zu führen und verspielt die Möglichkeit, seiner Autorität eine breitere Zustimmung  unter den Êzîden zu verleihen. Mîr Hazim Beg entfacht die Uneinigkeitsdebatten von Neuem, spaltet mit seinem Handeln die êzîdîsche Gesellschaft und macht damit erneut klar, dass er seines Amtes nicht würdig ist – und als weltliches Oberhaupt außerhalb seiner PDK-Blase keine Zustimmung erfährt.

Das Stimmungsbild unter der beobachtbaren Mehrheit der Êzîden: Während die êzîdîsche Gemeinschaft weiterhin unter den Folgen des Völkermordes leidet, erklärt Mîr Hazim Beg grinsend in die Kamera, wie gleichgültig ihm die Meinung der Êzîden ist. Bei der Kritik an seiner Person handelt es sich daher nicht um übliches Gebären andersdenkender Êzîden, sondern um berechtigte Kritik an seiner Führungskompetenz. Das Büro von Mîr Hazim Beg ließt heute mitteilen, dass die Einführungszeremonie von Ali Elias Baba Sheikh wie geplant stattfinden werde. Anschließend werde man die Êzîden in Shingal besuchen, um mit ihnen zu einem Konsens zu kommen. Mîr Hazim Beg hat die gebeutelte Region Shingal seit 2014 nicht ein einziges Mal besucht. Es werden sich wohl daher Vertreter auf den Weg machen, die in Shingal ebenso unerwünscht sein werden wie der Mîr selbst.