Das Schicksal tausender yezidischer Frauen, die während des Angriffes des Islamischen Staats (IS) am 3. August und in den darauffolgenden Wochen auf das Shingal Gebirge entführt worden sind, hat einige Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen, den meisten Menschen ist jedoch die Tragweite dieser katastrophalen Tragödie nicht bewusst. Boko Haram hat hunderte von Mädchen entführt, woraufhin sich ein internationaler Aufschrei auftat und eine Online Kampagne die Freilassung forderte; Der IS hat tausende yezidische Mädchen und Frauen in Folge einer sexuell motivierten Kampagne entführt, unzählige Familien auseinandergerissen und unvorstellbaren Schmerz und Zerstörung verursacht.
Während des Konfliktes in Syrien gab es bereits zahlreiche Anzeichen für Djihad Zwangsehen, die schwierig zu bestätigen waren und im Internet von IS Unterstützern bestritten wurden. Viele der Berichte wurden fallengelassen, weil nicht genug Beweise vorlagen. Die letzten Jahre in Syrien haben gezeigt, dass Gerüchte sich in Kriegszeiten schnell verbreiten und schwierig zu bestätigen sind, die Entführungen von yezidischen Frauen in diesem Sommer müssen daher auch mit entsprechender Vorsicht behandelt werden.
Trotz der gebotenen Vorsicht beschreibt das schiere Ausmaß der entführten yezidischen Frauen und die Berichte aus erster Hand von entkommenen Überlebenden – und den Berichten der weiterhin gefangengehaltenen Frauen via Telefonanrufe – detalliert dieses Phänomen und seiner sexuellen Beweggründe, die als gesichert gelten.
Aufgrund meines Aufenthalts im Nord-Irak über den gesamten Sommer hinweg, kann ich die Berichte der Journalisten, die über das Problem informiert haben, bestätigen. Ich war direkt an Rettungsmaßnahmen beteiligt und habe persönlich mit betroffenen Familien gesprochen, deren Töchter entführt worden sind und ihre Verwandte aus der Gefangenschaft heraus angerufen haben.
Ich habe nicht die Spur eines Zweifels, dass viele Frauen verschleppt und inhaftiert worden sind; die Frage die bleibt, ist die über die Anzahl. Restriktive Schätzungen sind von hunderten entführten yezidischen Frauen ausgegangen. Die Wirklichkeit zeugt jedoch davon, dass die Zahl wahrscheinlich in den Tausenden liegt.
Trotz dieses düsteren Bildes haben wir die Möglichkeit, einer hohe Prozentzahl der entführten Yezidinnen zu helfen, sofern die USA die Iraker und Kurden weiterhin tatkräftig unterstützt.
Das Phänomen der Versklavung ist real
Yezidische Führer und Freiwillige haben während des letztens Monats mit den Familien zusammengearbeitet, deren weibliche Angehörigen entführt worden sind und konnten so schrittweise ein klares Bild über die Zahl – und die Aufenthaltsorte – der entführten Frauen zeichnen.
Es ist kein Geheimnis, dass viele der entführten Frauen ihre Mobiltelefone bei sich haben und ihre Familien anrufen. Viele der Entführer versuchen dies nicht einmal zu verhindern; in einigen Fällen haben die Djihadisten diesen Kontakt genutzt, um ihren Terror weiter zu säen, in anderen Fällen haben die neuen „Herren“ ihren „Sklaven“ erlaubt, Kontakt mit ihren Familien zu haben, wenn sie versuchen die Frauen in ihren Sklavenhaushalt mit gewissen Privilegien und Pflichten zu integrieren.
Durch Telefongesprächen mit entführten Frauen und Mädchen und Gesprächen mit betroffenen Familien, die Anrufe erhalten haben, haben yezidische Freiwillige damit begonnen, genaue Zahlen der entführten Frauen an den verschiedensten Standorten zu ermitteln.
Es ist auch kein Geheimnis, dass umfangreiche Befreiungsmaßnahmen im Gange sind, mit der Beteiligung lokaler Araber und Muslime in den Gemeinden, in denen die Mädchen festgehalten werden. Einigen ist es gelungen, Mädchen von den IS Djihadisten freizukaufen und sie zu ihren Eltern zurückzubringen. Andere schafften es auf ihre Weise zu entkommen.
Auch andere Maßnahmen zur Befreiung sind im Gange. Ein yezidischer Freund, mit dem ich in Duhok gearbeitet habe, heuerte eine bewaffnete Gruppe für Geld an, um Rettungsaktionen in einer irakischen Stadt, weit südlich von Mosul, zu starten, wo die Mädchen festgehalten werden. Sie haben die Mädchen aus dem Haus befreit, wo sie von ihren Djihadisten „Herren“ eingesperrt worden waren und wurden anschließend in Sicherheit gebracht. Die an der Aktion beteiligten waren sunnitische Araber, die nicht mit dem IS sympathisierten (und bereit waren, solche Operationen gegen ein Entgelt durchzuführen).
Diese Mädchen wurden durch das halbe Land in die Häusern ihrer „Erwerber“ verschleppt, wo sie dann kochen und putzen mussten. Die neuen „Herren“ sagten ihnen: „Ihr seid unsere Jawari [Sklaven, die im Krieg erbeutet werden], aber macht euch keine Sorgen, ihr werdet behandelt wie unsere eigenen Frauen“, was bedeutet, dass sie in den Haushalt integriert werden und wie die anderen Frauen leben können.
Eine der geretteten Mädchen war erst 15 Jahre alt und wurde gegen ihren Willen von ihren Entführer zum Sex gezwungen. Ein weiteres Mädchen erlitt ein so schweres psyschisches Trauma während ihrer Entführung, den folgenden Vergewaltigungen und ihrer Verschleppung durch den Irak, dass sie schwer erkrankt ist.
Versuch einer religiösen Rechtfertigung
Die Philosophie des IS der Entführungen yezidischen Frauen basiert auf der Interpretierung des Verhaltens der Muslime während der frühen islamischen Eroberungen, als Frauen anderer Gesellschaften zu Konkubinen – als Kriegsbeute – versklavt worden sind.
Obwohl sie die Wertgegenstände geraubt haben, hat der IS die christliche Gemeinschaft nicht in derselben Art und Weise angegriffen, wie sie es mit den Yeziden tun. Als „Leute des Buches“, haben Christen gewisse Rechte; Yeziden gelten dem IS nach jedoch als Polytheisten, weswegen der IS sie als legitimes Ziel zur Unterwerfung und Versklavung betrachten, sofern sie nicht zum Islam konvertieren.
Viele Diskussionen werden nun über die Ähnlichkeit und dem Unterschiede zwischen den IS Methoden und ihrer aktuellen Anwendung, und jenen der frühen islamischen Gemeinschaft geführt. Historische Kontexte werden von Gelehrten diskutiert, Gottes Willen wird analysiert von jenen dann theologisch angepasst. Unabhängig davon, wie unsere Zeitgenossen nun die Vergangenheit interpretiert, hat der IS eine Epoche erschaffen und wiederbelebt, in denen Sklaven während des Krieges genommen werden und Familien vom realen Schmerz zerstört werden, nachdem ihre Kinder von ihnen fortgerissen wurden.
Ist das der Islamische Staat oder eine Bande lokaler Krimineller?
Die Online Djihadisten (oder Ehadisten) verteidigen den IS auf Twitter und Facebook und haben drei Wege, wie sie auf diesen moralischen Verfall reagieren. Der erste ist, dass sie die Entführungen yezidischer Frauen leugnen und die sexuelle Versklavung („Konkubinat“) bestreiten.
Entgegen der Verleugnungen der IS Unterstützer in den sozialen Netzwerken sind dies keine Gerüchte, sondern Fälle mit denen ich persönlich zutun hatte. Journalisten haben in ihren Berichten auf dieses Phänomen ebenfalls aufmerksam gemacht (0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9), und ich habe den Sommer mit dem Kontakt zu den yezidischen Familien verbracht, die dieses Übel ertragen mussten.
Die zweite Option der IS Unterstützer in den sozialen Netzwerken ist eine Argumentationskette, die den Trend der sexuellen Versklavung versucht als eine Form der Rache für die Unterdrückung der Sunniten (an der die Yeziden ironischerweise nie teilgenommen haben – eher waren sie Opfer einiger der schlimmsten Gewalttaten der Al-Kaida während des Irak Krieges sowie Ziele früherer religöser Verfolgung) zu rechtfertigen.
Das dritte Argument der IS Unterstützer ist, dass dieses kranke und bedauerliche Muster nicht von den IS-Mitgliedern selbst, sondern ferner durch andere örtliche Sunniten begangen wird, die das Kriegschaos ausnutzen um zu vergewaltigen, zu plündern und zu entführen. Ich bin ebenso verwirrt von den IS-Methoden und dem Verhalten und habe das Bedürfnis verstehen zu wollen, dass sie nach Idealen und striken religiösen Geboten agieren, sehe aber auch, dass sie desöfteren außerhalb dessen handeln, was ein solcher Kodexes vorgibt. Sie sind keine Außerirdischen sondern menschliche Akteure, die das Ziel einer Staatsgründung verfolgen und auch menschliches Verhalten demonstrieren können. Christen, die aus den irakischen Städten geflüchtet sind, berichteten mir, wie IS-Kämpfer Nahrung für ihre älteren und behinderten Angehörigen bereitgestellt haben, die nicht fliehen konnten und später von diesen in die Nähe von Kirkus gebracht wurden, wo sie sich wieder mit ihren Angehörigen zusammenfinden konnten. Wie sind solche menschlichen Akte der Gutmütigkeit mit den offensichtlichen Verbrechen und Zerstörungen des IS, die so gegenwärtig sind, in Einklang zu bringen?
Unabhängig davon, wie wir die psychologischen Beweggründe des IS zu verstehen haben, ist dieses dritte Argument – dass alle Verantwortlichkeit für die verbrecherischen Handlungen abstreitet und bei den lokalen, selbstsüchtigen, nicht IS-Akteuren verortet und nicht bei den IS-Kämpfern – schlicht falsch.
Richtig ist, dass viele lokale Akteure sich daran beteiligt und die Wertgegenstände ihrer Nachbarn geplündert haben, während der IS neue Gebiete erobert hat. Allerdings kann ich anhand mehrerer Augenzeugen, die beim Angriff des IS am 3. August auf Shingal gegenwärtig waren, darunter auch sunnitische Muslime, bezeugen dass die Selektierung der Frauen von den Männern und das Verladen in LKWs von den IS-Kämpfern selbst ausging und dies taten, sobald sie die Region erreichten.
Muslime, die versuchten in die Stadt Shingal zu flüchten beschrieben mir, dass noch bevor sie die Stadt erreichten, die IS-Kämpfer die ersten Angriffe auf flüchtende Familien auf den Straßen begangen, ihre Autos stoppten und die weiblichen Insassinnen mitschleppten – wenn sie Yezidinnen waren. Der Feldzug, weibliche Yezidinnen zu versklaven und sie als Konkubinen zu halten, ist ein Anliegen des Islamischen Staates.
Luftschläge der USA könnten schnell mehrere tausend yezidische Frauen und auch ganze Familien befreien
Die entführten Frauen werden zu alle Regionen der Sunniten im Irak transportiert, auch nach Syrien. Der Ort mit der höchsten Zahl von Entführten ist Mosul selbst. Die Rettungsmaßnahmen würden für viele dieser Frauen Jahre dauern. Einige werden wohl nie zurückkehren. Andere werden weiterhin in Gefangengeschaft leben und an ungewissen Zeipunkten der Zukunft wieder auftauchen. Andere werden weiterhin gerettet oder können in der nächsten Zeit flüchten.
Trotz dieser enormen Herausforderungen und der Verantwortlichkeit dieser monumentalen Tragödie, besteht die Möglichkeit eine große Zahl der Entführten in kurzer Zeit zu befreien. Ich beziehe mich auf rund 2.000 entführte Yezidinnen, die derzeit in Dörfern und Städten nahe des Shingal-Gebirges festgehalten werden.
Südlich von Shingal liegen mehrere Standorte, wo entführte Yezidinnen festgehalten werden. Durch Telefonkontakte mit gefangengenommenen Opfern, konnten Führer der Yeziden in der Provinz Duhok, die sich mit diesem Problem beschäftigen, Zahlen und genaue Standorte der meisten Frauen ermitteln. In über dutzend Stellungen in mind. sechs verschiedenen Städten, werden schätzungsweise 2.000 Yezidinnen festgehalten. In den meisten Standorten werden nur Frauen festgehalten, an einem Standort aber auch ganze entführte Familien, demnach auch männliche Angehörige.
Ein Mann, mit dem ich gesprochen hatte, hat sieben Familienmitglieder verloren: seine Tochter, seine Ehefrau und fünf ihrer Kinder wurden auf einem Schlag vom IS geschnappt. Sie konnten ihn einmalig kontaktieren und über ihren Standort informieren, danach ging der Kontakt verloren.
Die Mehrheit der Entführten wissen, wo sie sich befinden. Sie sind in vertrauten Gebieten, unweit von Shingal selbst. Als ihre Entführer von Luftangriffen erwischt wurden – einem intensiven Helikopterangriff auf IS-Ziele für weniger als eine halbe Stunde – gelang den meisten der Entführten die Flucht. Diese Angriffe könnten nicht alleine dazu dienen, die Kontrolle über diese Städte zurückzuerlangen, sondern sind nur nötig, um die moderate Zahl der IS-Kämpfer in der Region zu beschäftigen. Dieses Zeitfenster würden vielen der Entführten die Flucht ermöglichen.
Die US-Luftangriffe könnten ebenso mit der neu gegründeten „Ezidischen Einheit zum Schutze Shingals“, ansässigen Freiwilligen , die mit den Peshmerga zusammenarbeiten und versuchen die nicht vom IS eingenommenen Gebiete zu verteidigen und hoffen, ihre Städte und Dörfer zurückzuerlangen, koordiniert werden. Wenn langanhaltende Luftangriffe zum Kampf gegen den IS in Shingal durchgeführt werden würden, könnten die Yeziden vor Ort sich an Rettungsmaßnahmen zur Befreiung der Sklaven beteiligen.
Lasst uns so viele wie möglich zurückholen
Obwohl US-Luftangriffe durchgeführt wurden, um zu verhindern, dass der IS nach Duhok und Erbil vordringt (ohne die ich glaube, dass sie Duhok in nur zwei Tagen erreicht hätten), wurden keine nachhaltige Bemühungen unternommen um die kurdische Rückeroberung Shingals zu erleichtern. Die Menschen sind ratlos wieso und auch ich habe hierauf keine Antwort.
Was ich weiß ist, dass ohne die US-Luftunterstützung 1. Shingal nicht von den kurdischen Streitkräften befreit und die Meschen von Shingal nicht zurückkehren können und dass 2. eine große Zahl yezidischer Frauen, die sonst hätten befreit werden können, weiterhin von den IS Djihadisten als Sexsklavinnen verkauft werden. Die Provinz Duhok, mit hunderttausenden geflüchteten Yeziden und Christen und jenen, die aufgrund des Syrien Konfliktes seit drei Jahren geflüchtet sind, platz aus allen Nähten. Sie haben die Stadt über die Grenze ihrer Flüchtlingskapazität getrieben. Die Schulen sollten diese Woche für den neuen Schulbeginn der Kinder in der Region geöffnet werden, aber das ist nicht möglich, weil es keine Schule in der gesamten Provinz gibt, in der nicht mehrere Familien in den Fluren und in jedem Raum schlafen.
Shingal ist das größte Ballungszentrum der meisten Yeziden weltweit. Die yezidische Religion ist auch unzertrennbar mit den heiligen Stätten in Shingal verbunden. Wenn sie nicht in ihre Region zurückkehren können, wird es einen nachhaltigen Schaden an einer der letzten nicht-abrahamitischen Minderheiten im Nahen Osten sein und tausende Frauen werden weiterhin versklavt bleiben – im Jahr 2014. Lassen sie uns tun, was nötig ist um diese Menschen zu schützen und zu befreien, von der selbstsüchtigsten Form des Bösen, dem ich in meinem Leben je begegnet bin.
Übersetzung aus dem Englischen mit freundlicher Genehmigung des Autors durch êzîdîPress
Erschienen am 16. September auf Syria Comment
Matthew Barber ist Student der Universität von Chicago, der derzeit an seiner Promotion an der Fakultät für Vorderasiatische Sprachen und Kulturen arbeitet. Spezialisiert hat er sich besonders auf den Islam.
Zu seinen Interessensfeldern gehören Syrien, der Irak und religiöse Minderheiten, vor allem die Yeziden. Im Nordirak hat er zuvor schon mit seinen Forschungen an der Schaffung eines Personenstandsgesetz für Yeziden mitgewirkt.
Matthew Barber hat alle Teile der arabischen Welt bereist und arbeitet mit Prof. Joshua Landis, Direktor für Nahost-Studien und Ehrenprofessor der Universität von Oklahoma, zusammen an seinem akademischen Blog zu Kommentaren über Syrien. Während der tragischen Ereignisse, denen die Yeziden mit dem Angriff des IS auf Shingal in diesem Sommer ausgesetzt waren, besuchte Matthew yezidische Flüchtlinge in der gesamten Provinz Duhok und arbeitetet mit internationalen Medien zusammen, um historische, religiöse und gesellschaftliche Fragen – vor allem auch bezüglich der Verfolgung unter der die Yeziden leiden – zu erläutern.