IS-Terror im Nord-Irak, die Machenschaften des Barzani-Clans und westliche Besatzungspolitik: Warum Waffenlieferungen allein den Menschen nicht helfen
Irakischer Panzer, US-Fabrikat |© GdeFo
Ewiger Krisenherd: das Pulverfass Naher-Osten | © GdeFo

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Eine Analyse von Mizgin Ciftci

In der Nacht vom 2. auf den 3. August besetzten Milizen des ›Islamischen Staates‹, kurz ›IS‹, die Sinjar-Region, das Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden im Nord-Irak. Dort leben seit Jahrhunderten über eine halbe Million der weltweit nur 1.000.000 Anhänger zählenden jesidischen Glaubensgemeinschaft. Unweit von dieser Region liegt Laliș, das zentrale Heiligtum und die Pilgerstätte der religiösen Minderheit. In ihrer Panik flohen die Jesiden zu Hunderttausenden in die Sinjar-Berge – ohne Wasser und ohne Nahrungsmittel. Die Peșmerga, die kurdischen Streitkräfte im Nord-Irak, ließen die Jesiden allein. Sie verließen aus bisher ungeklärten Gründen die Sinjar-Region, kamen ihrer Schutzpflicht nicht nach und überließen die unbewaffneten Jesiden den Terror-Milizen des ›Islamischen Staates‹.

Heute ist der Befehlshaber dieses fluchtartigen Abzugs suspendiert. Heute sind aber auch zehntausende Christen, Turkmenen und Jesiden vom IS ermordet wurden. Im Internet brüsten sich die Terroristen mit Propagandavideos, in denen sie Massenhinrichtungen vollstrecken und zum ›heiligen Krieg‹ gegen Andersgläubige aufrufen. Menschen wurden lebendig begraben, Familienväter enthauptet, schwangeren Frauen der Bauch aufgeschlitzt und junge Mädchen zwangsprostituiert. Auf öffentlichen Märkten werden heute besonders schöne jesidische Mädchen zur Schau gestellt und für wenige Dollar an ihre skrupellosen Sklavenhalter verkauft. In vielen Wochen erst werden wir das Ausmaß dieser Tragödie wirklich einschätzen können. Erst dann werden wir die Höhe der vielen Leichenberge kennen.

Zehntausende werden für immer auf dem Berg von Sinjar-Jebel bleiben: Sie sind es, die elendig verdurstet sind. Vielen mehr ist die Flucht gelungen, sie harren im Nord-Irak, in Syrien oder der Türkei in Flüchtlingslagern unter menschenunwürdigen Verhältnissen aus. Diesen Menschen fehlt jede humanitäre Hilfe, sie schlafen auf der nackten Straße, der bei Regen zu Schlamm wird. Sie sind ohne ärztliche Versorgung, sauberer Kleidung und genügend Nahrung. Hunderttausende Menschen werden für immer Heimatlose sein, ihre Dörfer für immer verlassen und zerstört, Kinder zu Zehntausenden für immer ohne Eltern, sie sind heute Waisen dieser Welt. Mesopotamien, einst ruhmreich als Wiege der menschlichen Zivilisation gepriesen, ist heute nicht mehr die Heimat der vielen Kulturen. Jahrtausende alte Heiligtümer der Aramäer, Assyrer und Jesiden wurden für immer zerstört, die religiösen Gefühle vieler Menschen zutiefst verletzt. Der Schrecken, der sich heute über den Nahen Osten auftut, ist nicht nur ein physischer Völkermord an den Minderheiten der Region. Er bedeutet auch den Tod Jahrtausende alter Religionen, das Sterben eines unschätzbar wertvollen kulturellen Erbes unserer menschlichen Geschichte: Es ist ein Genozid, ein transgenerationaler Völkermord, ein kollektives Trauma für alle Hinterbliebenen.

Doch wie kam es eigentlich zu diesem Schrecken? Wer ist der IS, warum sind seine Milizen so stark, was wollen sie und warum töten sie gerade Christen, Jesiden und andere Minderheiten?

Der ›Islamische Staat‹: Auch ein Erbe westlicher Besatzungspolitik in Nahost

Will man die Stärke des ›Islamischen Staates‹ verstehen, muss man zunächst auf die Geschichte der Region zurückblicken: Die europäischen Mächte, allen voran Groß-Britannien und Frankreich, betrieben nach dem Ersten Weltkrieg eine imperialistische Politik im Nahen Osten. Sie begrüßten die Gründung zweier eigentlich künstlicher Staaten Syrien und Irak. Die teilweise mit dem Lineal gezogenen Staatsgrenzen dieser Länder zeugen noch heute von diesem Erbe. Eine historische Nationengenese nach europäischem Vorbild hat in diesen Ländern nie stattgefunden: Schiiten, Sunniten und Kurden, die drei großen Volks- und Religionsgruppen des Irak, und viele andere Minderheiten lebten plötzlich unter der Fahne nur einer Nation zusammen. Die Grundlage für demokratische Entwicklungen in dieser Region war nie gegeben, war doch schon das Fundament dieser Staaten fremdbestimmt und undemokratisch. Lange Zeit aber ging dies auch gut. Der Westen installierte säkulare Diktatoren in diesen Staaten und erhoffte sich so, weiterhin unbegrenzten Zugang zur rohstoffreichen Region des Nahen Ostens zu haben. Das kolonisatorische Projekt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts lebte in neuem, scheinbar unsichtbarem Gewand weiter. 2003 wiederholte sich die Geschichte: Die ›Koalition der Willigen‹, die USA und das Vereinigte Königreich, besetzten aufs Neue den Irak – das Ganze völkerrechtswidrig und ohne UN-Mandat. Der Vorwurf: Das Saddam-Regime ist im Besitz von Massenvernichtungswaffen und unterstützt den Internationalen Terror – alles natürlich nur ein Vorwand.

Saddam Hussein, lange Zeit treuer Verbündeter des Westens, war säkularer Tyrann des Iraks. Mit Gewalt hielt er die künstliche Nation zusammen und verhinderte den Aufstieg des Politischen Islam. So zynisch das für manche Ohren auch klingen mag, viele Minderheiten des neuen Irak, allen voran Christen und Jesiden, trauern heute dieser Zeit hinterher: »Unter Saddam fühlten wir uns sicherer.«, schreien sie hilferufend in die Kameras arabischer und kurdischer Fernsehsender. In Syrien sehen wir ein ähnliches Bild: Ein säkulares Assad-Regime, das einen künstlichen Staat zusammenhält und den politischen Islam zurückdrängt. Auch hier wünschen sich viele Minderheiten ein Zurück – trotz Diktatur und Menschenrechtsverletzungen. »Es gab aber ein Mindestmaß an Sicherheit, immerhin«, sagen sich heute viele, die Freunde und Familie im blutigen Bürgerkrieg verloren haben. Das sind Gefühle, die wir Ernst nehmen sollten – auch, wenn es nicht in unser Weltbild passt.

In beiden Fällen also bildete eine Minderheit die herrschende Klasse: Im Irak Saddam als sunnitischer Araber und in Syrien Assad als arabischer Alawite. Beide Gruppen stellen aber nicht einmal 10 Prozent der Bevölkerung. Mit dem Sturz des Saddam-Regimes änderte sich dieses Bild: Bis vor wenigen Wochen herrschte mit Maliki ein schiitischer Despot über den multi-kulturellen Irak. Die Minderheiten des Landes waren ihrer Rechte weitestgehend beraubt. Vor diesem Hintergrund, immer währender westlicher Besatzung und säkularer Minoritätendiktatur, müssen wir das Aufkommen und die Stärke des ›Islamischen Staates‹ verstehen.

Der Politische Islam spielt diese Situation perfide aus. Seine Interpretation der Lage ist wie folgt: Der sunnitische Islam ist im Nahen Osten unterdrückt. Die Muslime der Region sind vom Westen fremdbeherrscht, sämtliche Herrscher sind nur Lakaien dieser Politik. Die Muslime befinden sich also im ›Dschihad‹, im Glaubenskrieg um den Islam. Das Ziel ist die Errichtung eines Kalifats und die Einführung der Scharia, dem Islamischen Recht. Die Region soll von ›Ungläubigen‹, Christen, Turkmenen und Jesiden, ›reingewaschen‹ werden. Eine uniforme muslimische Gesellschaft ohne jedes Anderssein, Andersdenken und Andersleben ist das Ideal der Terroristen. Sie zur Annahme des Islams zu zwingen, ist für sie der größte Dienst an Gott und seiner Schöpfung. Dabei ist ihnen jedes Mittel Recht: Dörfer werden verbrannt, Heiligtümer zerstört, ganze Familien lebendig begraben, Köpfe an Häuserwände gehangen – und all dies unter der Fahne des Propheten Mohammed, eigentlich eine Tragödie für den friedliebenden Islam, eine Beleidigung für so viele Muslime auf dieser Welt. Die Jesiden, eine über 4.000 Jahre alte Religionsgemeinschaft Mesopotamiens, die keine Missionierung kennt, sind für die Terroristen der letzte Abschaum. Sie gelten als ›Abtrünnige Gottes‹ und ›Volk des Satans‹, das es zu islamisieren oder gnadenlos zu töten gilt. Heute sind sie von der Ausrottung bedroht.

Doch was unternimmt der Westen, um dieses Morden endlich zu beenden? Über welche Strategien zur Befriedung dieses Konfliktes wird eigentlich gestritten? Wollen wir den Menschen im Nord-Irak überhaupt helfen oder geht es uns um ganz andere Dinge?

Waffenlieferungen an die Kurden: Wer profitiert eigentlich?
Heilige Tempel der Jesiden Lalish
4.000 Jahre mespotoamische Geschichte in Gefahr – Lalish, das Heiligtum der Jesiden

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Der IS wird von mächtigen Staaten wie Katar und Saudi-Arabien unterstützt. Sie beliefern die Terroristen mit Waffen, die sie zuvor von Deutschland gekauft haben. Insofern scheint auch die historisch anmutende Debatte im Deutschen Bundestag um Waffenlieferungen der Bundesregierung in Krisengebiete mehr als heuchlerisch. Die Frage sollte eher lauten: »Wollen wir uns die Umwege sparen?« Seit Jahrzehnten liefert die Bundesrepublik schwerstes Kriegsgerät an Verbrecherstaaten dieser Welt. Nicht selten landen diese auch bei Terrororganisationen wie dem ›Islamischen Staat‹. Die Bundesrepublik ist heute drittgrößter Waffenexporteur der Welt. Jede Waffe aus deutscher Produktion findet ihre Toten auf der Welt. Jeder Krieg da draußen stärkt die heimische Wirtschaft und lässt die Kassen der Rüstungsindustrie kräftig klingen. Die Waffenlieferungen an die kurdischen Peșmerga mögen in diesen Tagen vielen helfen: Der Bundesregierung, dem kurdischen Autonomiegebiet und vielleicht sogar der IS, wenig bis gar nicht aber den Minderheiten in Not. Deutschland liefert Restbestände der Bundeswehr, deren Ablaufdatum bald schon rum ist. Ein Export in den Nord-Irak ist günstiger als die heimische Entsorgung, die leeren Waffenarsenale liefern Platz für neues Rüstungsshopping.

Zugleich statuiert die Bundesregierung mit dieser Entscheidung ein außenpolitisches Exempel: Galt bislang das Credo »Keine deutschen Waffen in Krisengebiete!«, ist nun auch diese Tür für eine militaristische, auf Expansion und Einflussnahme zielende Außenpolitik geöffnet. Auch die irakischen Kurden um Präsident Barzani können diese Waffenlieferungen gut gebrauchen. Der Irak ist im Zerfall, eine kurdische Unabhängigkeitserklärung nur noch eine Frage der Zeit. Da hilft jede Waffe mehr. Den Jesiden sei Dank! – Mit ihrer Ausrottung kamen die Waffen, mit den Waffen das gelobte Kurdistan, unabhängig und frei, strahlend und stolz wie die Sonne seiner Flagge, nur ohne seine Ahnen, den Jesiden. Gewinnt der ›IS‹ aber umgekehrt an Stärke, können diese Waffen in naher Zukunft auch in die Hände der Terroristen gelangen. An Militärstationen des Iraks haben sie sich in den letzten Wochen schon zu Genüge bedient, Waffen gibt es schließlich mehr als genug in der Region. Hinzu kommt: Der Nato-Partner Deutschlands, die Türkei, gewährt mit ihrer islamistischen Erdogan-Regierung den Milizen einen freien Übertritt in türkisches Staatsgebiet und liefert ihnen so ein sicheres Rückzugsgebiet.

Mittlerweile kontrolliert der ›Islamische Staat‹ ein Gebiet, das größer als Groß-Britannien ist. Viele ehemals moderate Muslime haben sich dem ›heiligen Krieg‹ der IS-Milizen gegen die ›Ungläubigen‹ angeschlossen. Auch aus Deutschland rekrutieren salafistische Moscheen verlorene Gestalten für das Morden im Namen Allahs – Ein Armutszeugnis für unsere Demokratie, die sich doch so oft als ›wehrhaft‹ rühmt. Die immerwährenden Opfer dieser menschlichen Tragödie sind die Minderheiten der Region, vor allem Christen und Jesiden. Auf ihrem Rücken wird ein globaler Krieg um Macht, Einflussnahme und Ressourcen geführt. Ihnen droht im 21. Jahrhundert die Vernichtung: Eine ethische Katastrophe für die ganze Menschheit. Im Irak nach Saddam waren sie schon lange ausgegrenzt. Vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, fristeten sie ein marginalisiertes Dasein am Rand der Gesellschaft. Im kurdischen Regionalparlament sind die 600.000 irakischen Jesiden nur durch einen einzigen Abgeordneten vertreten, und dieser gilt als geschmiert. Trotz vieler gut ausgebildeter jesidischer Juristen bekleidet keiner von ihnen ein Richteramt. Das Argument: Die Muslime würden den Richterspruch eines Jesiden niemals akzeptieren.

Aber schauen wir trotz aller Gräuel nach vorn, bewahren wir unsere Hoffnung: Was kann die Welt unternehmen, um diesem Völkermord endlich Einhalt zu gebieten? Was sind eigentlich die Forderungen der Betroffenen selbst, der Christen und Jesiden, an die internationale Staatengemeinschaft?

Christen, Jesiden und andere Minderheiten im Nord-Irak:
Eine Schutzzone kann weiteres Sterben verhindern

Christen, Jesiden und andere Minderheiten des Nord-Irak stehen heute an einem existenziellen Scheideweg. Es geht um das Überleben oder den Tod ganzer Völker. Weder die irakische Zentralregierung in Bagdad noch die kurdische Regionalregierung im Nord-Irak – das hat die Vergangenheit zu oft gezeigt – sind aus eigener Kraft in der Lage, ihre Bevölkerung vor einem Völkermord zu schützen. Die Vereinten Nationen haben nach international gültigem Völkerrecht nicht nur das Recht, nein, sie haben die Pflicht, die Bevölkerung des Nord-Irak vor weiteren Massakern zu schützen.

Der Zentralrat der Jesiden fordert zusammen mit der Syrisch-Orthodoxen Kirche, dass eine UN-Schutzzone in den Siedlungsgebieten der Christen und Jesiden errichtet wird – Ein intelligenter Vorschlag! Das wäre ein erster Schritt, um das Überleben der bedrohten Minderheiten im Nord-Irak zu schützen. Durch einen sukzessiven Aufbau von demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in der Schutzzone kann langfristig der Schutz und die Selbstbestimmung der bedrohten Minderheiten im Nord-Irak gewährleistet werden. Die Verankerung einer solchen Schutzzone muss durch international bindende Rechtsmittel geschehen. Die Unterstützung der Bundesregierung im Nord-Irak muss ferner an klare Bedingungen geknüpft sein. Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit der Aus- und Aufrüstung der kurdischen Kräfte für die Sinjar-Region müssen formuliert werden.

Es darf nicht sein, dass unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes politische Interessen verfolgt und die Minderheiten wieder schutzlos ihrem eigenen Schicksal überlassen werden. Schon zu oft waren sie Opfer dieser Welt – Die Jesiden zumindest, so berichten uns ihre heiligen Gebete, erlebten diese Gräuel bereits 72 Mal. Ihre von Verfolgung und Verachtung geprägte Leidensgeschichte steht stellvertretend für das trostlose Schicksal so vieler von Solidarität und Mitgefühl verlassener Völker in einer nach Hilfe schreienden Welt.

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Mizgin Ciftci
Student der Politikwissenschaft und
Redakteur des jesidischen Nachrichtenportals www.ezidipress.com