Shingal. Bei einem erneuten Luftbombardement der Türkei in der nordirakischen Region Shingal sind am Mittwoch zwei Menschen getötet worden. Am Nachmittag attackierte das türkische Militär mit bewaffneten Drohnen in der Gemeinde Sinune eine militärische Einrichtung der êzîdîschen Widerstandseinheit Shingals (YBŞ). Ein zweiter Drohnenangriff erfolgte gegen ein ziviles Gebäude sowie ein anliegendes Ladengeschäft. Bei dem zweiten Angriff wurde der 12-jährige Salah Nassir, der im Lebensmittelhandel seiner Familie aushalf, getötet. Sein Vater konnte ihn zwar aus den Trümmern befreien, für den 12-Jährigen kam aber jede Hilfe zu spät. Er verstarb noch vor Ort. 

Videoaufnahmen der Nachwirkungen des Angriffes zeigen schreiende Menschen, die um Hilfe für ihre ebenfalls unter den Trümmern verschütteten Angehörigen flehen. Sechs weitere Menschen wurden bei den Angriffen verletzt und befinden sich teils in kritischem Gesundheitszustand, wie örtliche Helfer mitteilen. 

Bei den seit Jahren anhaltenden Angriffen der Türkei gegen Ziele der êzîdîschen YBŞ in der Region Shingal werden immer wieder Zivilisten getötet. Im August 2021 bombardierte die Türkei ein Krankenhaus. Bei dem Angriff starben acht Menschen. Die Türkei begründet ihre Angriffe mit dem Vorwand des Kampfes gegen die kurdische PKK. Sie betrachtet die êzîdîsche YBŞ-Kampfeinheit als direkten verlängerten Arm der PKK in der Shingal-Region. Die YBŞ besteht jedoch fast ausschließlich aus ÊzîdInnen, die in der Shingal-Region ansässig sind und vom irakischen Staat als legitime Miliz anerkannt ist.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat das Vorgehen der Türkei im Nordirak in einem Gutachten als völkerrechtswidrig gewertet. Internationale Proteste, insbesondere westlicher Staaten, blieben jedoch aus. Auch, weil die Türkei NATO-Mitgliedstaat ist und eine offene Konfrontation zu Zerwürfnissen innerhalb des Militärbündnisses führen könnte. Türkische Angriffe gegen Kinder sind für westliche Staatsoberhäupter offenbar weniger verachtenswert als russische; anders lässt sich die seit Jahren demaskierte Doppelmoral des Bündnisses nicht beschreiben. Die von der Ukraine – zu Recht – eingesetzte und hochgelobte Kampfdrohne Bayraktar tötet weniger Kilometer von der Ukraine entfernt seit Jahren eben auch jene zivile Leben, die die NATO in der Ukraine schützen möchte.

Seit dem Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gegen die êzîdîsche Zivilbevölkerung im August 2014 liegt die Shingal-Region wirtschaftlich brach und ist politisch weiterhin umkämpft. Ein weitflächiger Wiederaufbau hat bis heute nicht stattgefunden. Noch immer leben Zehntausende Menschen in Flüchtlingslagern und harren auch nach fast acht Jahren in prekären Verhältnissen aus. Der irakische Zentralstaat ist nicht in der Lage, seine territoriale Souveränität zu verteidigen. Für die ÊzîdInnen in Shingal bedeutet das trotz des militärischen Sieges über den IS auch nach acht Jahren ein Leben in ständiger Angst.  Jede Minute muss mit einem weiteren Luftbombardement der Türkei gerechnet werden, die sich über die gesamte Region erstrecken.