In der wohl schwierigsten Epoche der êzîdîschen Geschichte lenkte er über 70 Jahre lang die politischen und religiösen Angelegenheiten der êzîdîschen Gemeinschaft. Mit seinem Tod endet nicht nur eine personelle Ära, sondern womöglich auch das Amt der traditionellen Mîr-Würde.
Ein Portrait.

Mîr Tahsîn Beg im Jahr 2016 (BBC)

Um die Bedeutung der Person des Mîr Tahsîn Beg und seiner Position zu verstehen, ist ein historischer Abriss über die Geschichte der êzîdîschen Fürstenfamilie und des Mîr-Amtes im Allgemeinen unerlässlich. Im Anschluss daran wird auf die Kindheit, Jugend und das Wirken von Mîr Tahsîn Beg eingegangen.

Das Fürstentum Sheikhan

In der nordirakischen Region Sheikhan befindet sich bis heute eines der Hauptsiedlungsgebiete der Êzîden. Hier befindet sich auch das êzîdîsche Zentralheiligtum Lalish, wo das weltliche sowie das religiöse Oberhaupt der Êzîden residiert. Seit 300 Jahren ist dieses Herrschaftsgebiet der Êzîden unter dem Namen Sheikhan bekannt. Einige westliche Reisende, die im 19. Jahrhundert vermehrt das êzîdîsche Fürstentum besuchten, bezeichneten die Region auch als „Yezidkhane” (Êzîdxanê) – das Land der Êzîden. Im osmanischen Reich wurde das Fürstentum Sheikhan vom 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert als ein eigener Verwaltungsdistrikt – ein sog. Sanjak – geführt und als „Sanjak Dasini“ bezeichnet. Dasini war der alte Name des Fürstentums Sheikhans, der auch synonym als Bezeichnung aller Êzîden verwendet wurde. Êzîdîsche Fürsten führten den Namen Dasini daher auch in ihrem Namen, so etwa Mir Hussein Beg Dasini (ermordet in den 1530er Jahren) oder auch Mirza Beg Dasini (1600 – 1651).

Über die Anfänge des Fürstentums ist nur sehr wenig überliefert. Arabische Chronisten, wie etwa al-Kalby, berichten, dass kurz nach dem Niedergang der Ummayaden und der anschließenden Machtergreifung durch die Abbasiden, im Jahr 838 auf dem Gebiet des heutigen Sheikhan ein Aufstand ausbrach. Die Aufständischen wurden Dasini genannt. Anders als unter den Ummayaden, in denen die verschiedenen Völker mit ihren unterschiedlichen Religionen mehr oder weniger friedlich zusammenlebten, begann mit den Abbasiden eine Epoche der Verfolgung nicht-islamischer Religionen. Drei Jahre lang soll der Aufstand der Dasinis unter ihrem Fürsten Mir Jafar angehalten haben, ehe er blutig niedergeschlagen wurde. Über den Verbleib der Dasinis und ihres Herrschaftsgebietes ist nach dem Aufstand nichts bekannt, viele Forscher sehen aber hier das Fundament des späteren Fürstentums Sheikhan.

Auf diesem Gebiet tauchte um das Jahr 1112 der êzîdîsche Heilige Sheikh Adi (1073 – 1162), die zentrale Figur des Êzîdentums und der êzîdîschen Geschichte, auf und verbündete die dortigen Stämme unter seinem Adawiya-Orden. Seine Anhänger waren neben der heutigen Selbstbezeichnung „Êzîdî“ (Êzîden) für eine lange Zeit auch unter der Bezeichnung „Adawis” und bis ins späte 19. Jahrhundert auch als Dasinis bekannt.

Über hundert Jahre nach Sheikh Adis Wirken wurden die Êzîden in Sheikhan von seinem Ur-Großneffen Sheikh Hassan (1195 – 1246) angeführt. Unter Sheikh Hassan blühte laut zeitgenössischen Berichten das Fürstentum Sheikhan auf und gewann an signifikantem militärischem Einfluss – nach einem arabischen Historiker bedrohte Sheikh Hassans Macht sogar die Stadt Mosul als islamisches Kulturgut. Die arabischen Herrscher fürchteten, Sheikh Hassans êzîdîsche Armee würde die islamisch geprägte Stadt Mosul vernichten.

Sheikh Hassan ging in die Geschichte ein, da es ihm gelang, das Fürstentum zu zentralisieren und de facto zu verstaatlichen. Um das Fürstentum angemessen regieren und verwalten zu können, gründete er einen Religionsrat, der bis heute unter dem Namen „Civata Ruhanî” (Geistiger Rat) existiert. Der Geistige Rat wurde zur bedeutendsten Institution im Êzîdentum, dessen Vorsitz bis zu seinem Tod auch Mîr Tahsîn Beg bekleidete. Zeitgenössische islamische Chronisten ließen kein gutes Haar an Sheikh Hassan, der – so das Narrativ – den Islam und seinen Einfluss in seinem Herrschaftsgebiet bekämpfte und verdrängte. Sheikh Hassan soll im Übrigen sechs Jahre an einem Buch gearbeitet haben, das den Êzîden als Religions- und Gesetzbuch dienen sollte. Heute existieren noch einige von Sheikh Hassan verfasste Urkunden als sog. „Mişûrs“, die von êzîdîschen Geistlichen aufbewahrt werden.

Es dauerte nicht lange und der Stadthalter von Mosul, Badr ad-Din Lulu (gestorben 1259), sah in Sheikh Hassans Einfluss eine ernsthafte Bedrohung. Im Jahr 1246 marschierte er mit einer riesigen Armee in Sheikhan ein, zerstörte Lalish, massakrierte die Êzîden und nahm Sheikh Hassan gefangen. Zur Abschreckung wurden 200 Anhänger Sheikh Hassans öffentlich hingerichtet. Sheikh Hassan weigerte sich, den Islam anzunehmen und damit die Êzîden zu islamisieren und wurde schließlich in Mosul hingerichtet. Einige Jahre später, im Jahr 1254, führte Badr ad-Din Lulu einen erneuten Feldzug gegen die Êzîden in Sheikhan.

In diesem Abschnitt der êzîdîschen Geschichte übernahm Sheikh Hassans Sohn, Sheikh Sherfedin, die Führung über die Êzîden. Sheikh Hassans Nachfahren, die Adani-Sheikhs, herrschten für eine lange Zeit über die Êzîden, bis zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert zwischen den Adani- und den Schamsani-Sheikhs ein kriegerischer Konflikt ausbrach. Die dritte Sheikh-Gruppe der Êzîden, die Qatanis, entfernte Seitenverwandte der Adanis, die sich in dem Konflikt jedoch neutral verhielten, konnten letztlich die Herrschaft über Sheikhan an sich reißen. Die êzîdîsche Theokratie, die bis heute standhält, wurde gegründet. Zu der Qatani-Familie gehörte auch Mîr Tahsîn Beg.

Die êzîdîsche „Theokratie“

Bei der Entstehung der êzîdîschen „Theokratie“ spielte vor allem Mîr Mihammad Batini, einer der ersten Oberhäupter der Qatanis, eine zentrale Rolle. Mir Mihammad Batini war ein Nachfahre des êzîdîschen Heiligen Mîr Ibrahim Adem. Der Vater von Mir Ibrahim Adem, Derwisch Adam, war ein Schüler Sheikh Adis.

Mîr Mihammad Batini verhielt sich während des Konflikts zwischen den Adanis und Schamsanis neutral und wurde so zum Fürsten und weltlichen Oberhaupt der Êzîden. In diesem Entwicklungsabschnitt wurde der kriegerische Konflikt zwischen den êzîdîschen Sheikh-Familien beendet und die êzîdîsche „Theokratie“ ins Leben gerufen. Die Schamsanis erhielten die Aufgabe der religiösen Führung, deren Vertreter und religiöses Oberhaupt aller Êzîden „Babaşêx“ (Vater der Sheikhs) genannt wird. Die Adanis wurden zu den Peschimamen der Êzîden ernannt, welche wichtige religiöse Rituale – etwa die religiöse Trauung êzîdîscher Ehepaare – vollziehen. Aus der Familie des Mîr Mihammad Batinis aus der Gruppe der Qatanis wurde fortan der weltliche Führer bestimmt, der zugleich den Vorsitz des Religionsrates übernahm.

Das „Sanceqa welatê Xaltan“ (Das Sanjak für das Land der Khaltis), welches die Herrschaft des Mirs über die Yeziden in Redwan/Welate Khaltan, südlich von Siirt und überwiegend zum Khalti-Stamm gehörten, symbolisiert. Gezeichnet 1849 von Sir Austen Henry Layard.

Mir Mihammad Batini hatte zwei Söhne, Mir Melik und Mir Mansur. Der ältere der beiden Brüder, Mir Melek, folgte seinem Vater als neuer Führer der Qatanis. Seither geht das weltliche Oberhaupt der Êzîden aus der Qatani-Gruppe, genauer aus der Familie der Nachfahren von Mir Melik, hervor. Mîr Tahsîn Beg ist ein direkter Nachfahre Mir Meliks. Diese Aufgabenverteilung, der Religionsrat und die êzîdîsche „Theokratie“ haben sich bis heute bewährt.

Sheikhan war bis in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollkommen unabhängig, ehe das Fürstentum vom kurdischen Fürstentum Bahdinan angegriffen und unterjocht wurde.

Ende des 18. Jahrhunderts mischten sich erstmals Außenstehende, in diesem Fall das kurdische Fürstenhaus von Bahdinan, unter dem die Êzîden fatal zu leiden hatten, in die Wahl der êzîdîschen Fürstenrolle ein und ernannten Khanjar Beg, einen Nachfahren von Mir Mensur, zum Fürsten von Sheikhan. Doch die Herrschaft Khanjar Begs währte nicht lange. Nach nur einem Jahr war sie beendet worden und die alte Erbfolge wiederhergestellt.

Seither wird der Fürst der êzîdîschen „Theokratie“ als Mîr (Prinz) bezeichnet. Er ist die höchste weltliche Instanz und Vertreter der Êzîden in allen Angelegenheiten. Seine Familie wird als „Mala Mîra“ (Fürstenhaus) bezeichnet und er residiert im Dorf Baadre. Als Vorsitzender des Religionsrates lenkt er die religiösen Angelegenheiten, dessen Beschlüsse er mit anderen Würdenträgern beratschlagt. Sein Einfluss und die Reichweite seiner Beschlüsse entfalteten auch für die êzîdîschen Gemeinschaften außerhalb Sheikhans Wirkung. Für die sieben größten êzîdîschen Gemeinden bzw. Siedlungen, einschließlich Sheikhan, gab es jeweils ein sogenanntes Sanjak.

Die sieben Sanjaks galten als Banner der êzîdîschen Fürstenfamilie, die von den Qewals (Prediger der sakralen Hymnen) in den jeweiligen Siedlungsgebieten der Êzîden geführt wurden. Die Sanjaks symbolisierten die Herrschaft des Mîrs und wurden vom jeweiligen Vertreter der sieben Sanjaks aufbewahrt.

Stammbaum des Mîr Tahsîn Beg

Der Stammbaum Mîr Tahsîn Begs ist – zumindest in schriftlicher Form – vor dem Beginn des 18. Jahrhunderts, mit einer Ausnahme, schlecht überliefert. Ab dem 18. Jahrhundert hingegen ist dieser umfangreich und auch schriftlich überliefert, weshalb hier nur die direkte Erbfolge im Stammbaum berücksichtigt wird:

Stammbaum Mîr Tahsîn Beg

Wie am Stammbaum Mîr Tahsîn Begs zu erkennen ist, sind nur wenige êzîdîsche Fürsten von Sheikhan eines natürlichen Todes gestorben. Viele wurden ermordet. Auch auf Mîr Tahsîn Beg erfolgten zwei Attentate, auf die im späteren Verlauf eingegangen wird.

Einer seiner Vorfahren, sein Ur-Ur-Großvater Mir Ali Beg I. gehört heute fest zum Kollektivgedächtnis der Êzîden und ist unter ihnen der wohl bekannteste Mîr in ihrer Geschichte. Grund ist vor allem sein Märtyrertod im Jahr 1832 während des Soranmassakers durch Angreifer aus dem Soran Gebiet. Während seiner Gefangenschaft wurde Mir Ali Beg I. gefoltert. Unter dieser Folter versuchte man ihn zum Islam zu bekehren. Doch Mir Ali Beg I. weigerte sich und blieb seiner Religion treu, weshalb er dann hingerichtet wurde. Dies werteten die Êzîden trotz der Ermordung ihres Mîrs als Sieg.

Im Stammbaum wurden nur die männlichen Erbfolger berücksichtigt. Eine Frau aus der Fürstenfamilie jedoch spielte eine besondere Rolle und führte für mehrere Jahrzehnte als weltliches Oberhaupt die Êzîden an: Mayan Khatun (1873 – 1956), die Großmutter und zugleich Mentorin Mîr Tahsîn Begs.

Mîr Tahsîn Begs Kindheit und Jugend

Tahsîn Beg wurde am 15. August 1933 als drittältester Sohn des weltlichen Oberhauptes der Êzîden, Mîr Saîd Alî Beg, in der Sheikhan-Region im heutigen Nordirak geboren. Obwohl Tahsîn Beg nur der drittälteste seiner insgesamt fünf Brüder war, wurde er nach der Ermordung seines Vaters am Tag der Beisetzung im Jahr 1944 von den anwesenden Stammesältesten und insbesondere von seiner Großmutter Meyan Xatûn als Nachfolger der Mîr-Würde vorgeschlagen und bestimmt. Zu diesem Zeitpunkt war Tahsîn Beg elf Jahre alt. Obwohl er offiziell das weltliche Oberhaupt der Êzîden war, lenkte in Wirklichkeit seine Großmutter Mayan Khatun alle Angelegenheit der Êzîden.

Mayan Khatun mit ihrem Sohn Mir Said Beg, Vater des Mîr Tahsîn Beg

Mayan Khatun war unter den Êzîden äußerst beliebt und genoss großen, in der Geschichte der Êzîden wohl einmaligen, Respekt. Ein irakischer Beamter in Sheikhan schrieb über seine Begegnung mit Mayan Khatun im Jahr 1948: „Einige Tage nachdem ich das Amt des Kreisdirektors in Schekhan übernommen hatte, erschien eine alte Dame, die vielleicht über 70 Jahre alt war, in meinem Büro, um mir zur Amtsübernahme zu gratulieren und ihre volle Unterstützung für meine Arbeit in der Region zum Ausdruck zu bringen. Obwohl sie sehr alt war, wirkte sie nicht gebrechlich. Ganz im Gegenteil: Ihr charmantes Auftreten und ihre wunderbare Ausstrahlung waren faszinierend. Sie war eine Persönlichkeit, vor der man Respekt zeigen musste.“

Nach dem plötzlichen Tod ihres Sohnes Mir Said Beg im Jahr 1944 setzte Mayan Khatun ihren elfjährigen Enkel Tahsîn Beg, obwohl nur drittältester Sohn, als neues weltliches Oberhaupt der Êzîden durch. Mayan Katun hat ihn, so sagte Tahsîn Beg später, wesentlich geprägt und bis zu seiner faktischen Amtsübernahme als Mentorin auf sein Arbeit vorbereitet.

Tahsîn Beg wurde an jenem Tag zum neuen Mîr ernannt und trug fortan den vollen Namen Mîr Tahsîn Saîd Alî Beg. Er wird der wohl letzte in der über 700-jährigen Geschichte des Mîrtums sein und die Êzîden durch eine von Migration, Flucht, sozialen Transformationen, politischen Umbrüchen und eines verheerenden Völkermordes geprägte Ära führen müssen. Von 1944 an hat er ununterbrochen bis zum Januar 2019 das Amt des Mîr bekleidet, das von seiner Familie bereits seit dem 14. Jahrhundert beherrscht wird.

Bis Mîr Tahsîn Beg reif genug war um selbstständig als Oberhaupt zu agieren, übernahm Mayan Khatun die Vormundschaft. So regierte Mayan Khatun von 1913 bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 de facto als weltliches Oberhaupt bzw. als Fürstin der Êzîden.

Mayan Khatun

Mayan Khatun bildete ihren Enkel umfangreich aus, um ihn bestmöglich auf seine zukünftigen Aufgaben vorzubereiten. In dieser Zeit lernte der junge Mîr Tahsîn Beg, wie wichtig diplomatische Beziehungen sein können. Eine Lektion, die er auch später immer wieder versuchen wird umzusetzen und so auch den Unmut vieler Êzîden auf sich zieht.

Seine Großmutter und Mentorin Mayan Khatun selbst durchlebte an der Seite ihres Ehemannes Mir Ali Beg II. eine der blutigsten Episoden der êzîdîschen Geschichte. Ab 1893 führte Omar Wahbi Pascha, auch Firik Pascha genannt, einen Vernichtungsfeldzug gegen die Êzîden in Sheikhan und Shingal an. Zehntausend Êzîden wurden massakriert, Frauen und Kinder versklavt und über 15.000 Êzîden zwangsislamisiert. Sheikhan wurde nahezu dem Erdboden gleich gemacht. Mayan Khatun musste miterleben, wie ihr Ehemann, der sich weigerte den Islam anzunehmen, gefoltert und gedemütigt wurde, ehe beide ins Exil verbannt wurden.

Während dieser Zeit gebar sie ein Kind, das bereits im Mutterleib verstorben war. Erst mit großer Mühe und Überwindung zahlreicher Hürden konnte Mir Ali Beg II. ihre Rückkehr nach Sheikhan organisieren, und begann zusammen mit seiner Frau, die Êzîden, welche sie mit Freude als ihre Oberhäupter empfingen, wieder zu alter Stärke und Ordnung zu führen. Sie gaben ein enormes Vermögen aus, um die osmanischen Behörden und Beamten zu bestechen, um so den Êzîden weitestgehend eine Zeit des Friedens zu ermöglichen. Sie begannen damit, zerstörte êzîdîsche Heiligenstätte und Dörfer wiederaufzubauen und konnten Lalish, das während des Vernichtungskrieges von Muslimen besetzt worden war, zurückerobern.

Dieser schreckliche Lebensabschnitt formte die junge Mayan Khatun zu einer Frau mit einem eisernen und starken Charakter, der auch auf ihren Enkel Mîr Tahsîn Beg abfärbte.

Mîr Tahsîn Beg im Alter von ca. 13 Jahren

Über seine Großmutter erinnerte sich Mîr Tahsîn Beg im Jahr 2013: „Meine Großmutter, Mayan Khatun, eine sehr tüchtige und intellektuelle Frau, hat zweimal in der yezidischen Historie die Fürstenrolle des Mir geleitet. Nachdem mein Großvater Ali Beg ums Leben kam und mein Vater zu die­sem Zeitpunkt noch minderjährig war, übernahm meine Großmutter Mayan Khatun die weltliche Führungsrolle der yezidischen Gemeinschaft. Sie war die erste Ansprech­partnerin sowohl für ihr eigenes Volk als auch gegenüber politischen Vertretern anderer Volksgruppen.

Mit seinem 18. Lebensjahr übernahm mein Vater Said Beg dann offiziell die Würde des Mir und die damit verbundenen Pflichten und Rechte. Meine Großmutter genoss weiterhin große Anerkennung und Wertschätzung innerhalb der yezidischen Gemeinschaft. Sie war darüber hinaus auch eine ausgezeichnete Diplomatin. […] Meine Großmutter Mayan Khatun war eine intelligente Frau und auch die politischen Umstände jener Zeit machten ihre Führung möglich.“

Nach dem Tod seiner Großmutter übernahm 1956 der mittlerweile zu einem erwachsenen Mann herangereifte Mîr Tahsîn Beg die alleinige Führung der Êzîden. Und bereits kurz danach begann eine Tortur, die sein Leben lang anhalten sollte – eine Tortur, die er mit seinen Vorvätern teilte.

Mayan Khatun mit dem jungen Mir Tahsin Beg

Regierungszeit des Mîr Tahsîn Begs

Anders als viele Êzîden seiner Zeit erfuhr Mîr Tahsîn Beg eine gute schulische und politische Ausbildung. Um seinen politischen Aufgaben gerecht zu werden, lernte er mehrere Sprachen und sprach schließlich sechs Sprachen fließend, darunter auch Englisch.

Mit dem irakischen König Faisal II. pflegte er nach eigenen Angaben eine freundschaftliche Beziehung. Nach dem Sturz des irakischen Königs und der Abschaffung der Monarchie in den 1950er Jahren geriet Mîr Tahsîn Beg ins Visier der neuen Militärdiktatur unter Abd al-Karim Qasim.

Mîr Tahsîn wurde schließlich gefangen genommen und inhaftiert, ehe er sich nach seiner Freilassung unmittelbar der kurdischen Rebellion im Irak anschloss. Im darauffolgenden ersten Kurdisch-Irakischen Krieg in den Jahren 1961 bis 1970 führte Mîr Tahsîn Beg an der Seite von Mustafa Barzani, dem kurdischen Anführer der Rebellion, in führender Rolle die Êzîden an. Der Krieg endete mit einem Sieg über die irakischen Truppen.

Mit der Machtübernahme Saddams entflammte auch ein neuer Krieg des Iraks gegen die Êzîden. Saddams Regime zerstörte dutzende êzîdîsche Dörfer. Auch diesmal schloß sich Mîr Tahsîn Beg mit einer êzîdîschen Armee den kurdischen Peshmerga an und kämpfte gegen Saddam Husseins Schreckensherrschaft.

Im Jahr 1975 flüchtete Mîr Tahsîn Beg vor Saddams Schergen erst in den Iran und von dort aus ins Exil nach Großbritannien. Erst im Jahr 1985 kehrte er in den Irak zurück und übernahm als Führer der Êzîden weitreichende politische Funktionen in den êzîdîschen Gebieten der späteren Autonomen Region Kurdistan. Noch mehr Einfluss erhielt er im Jahr 1992, als die Autonome Region Kurdistan im Nordirak entstand und er direkten Einfluss über die êzîdîschen Stämme und Gebiete ausübte. Diese Macht wurde ihm jedoch in den Folgejahren systematisch von der kurdischen Autonomieregierung genommen, um seinen Einfluss zu beschränken. Später wird er jenes Handeln seiner einstigen Kampfgefährten verurteilen und sie der Assimilation der Êzîden bezichtigen.

Als im Jahr 2005 die neue irakische Verfassung nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein ausgearbeitet wurde, drängte Mîr Tahsîn dazu, die Êzîden in der neuen Verfassung explizit zu benennen und ihnen verfassungsrechtliche Freiheiten zu gewährleisten. Sein Einfluss reichte schließlich noch so weit, dass auch die Êzîden in der irakischen Verfassung als Minderheit anerkannt wurden und den Êzîden zumindest ein kompensatorischer Minderheitensitz im irakischen Parlament zugesichert wurde.

Es wird sein letzter großer politischer Erfolg bleiben, eher er erkrankt und die Führung schrittweise seinem Sohn Hazim Beg überlässt.

Von 2013 an lässt sich der gesundheitlich bereits angeschlagene Mîr Tahsîn in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover nieder und behandeln. In den kommenden Jahren kehrte er nur sporadisch bei dringender Notwendigkeit kurzzeitig in den Irak zurück.

Attentate

Als Oberhaupt der Êzîden stand der Mîr im Fadenkreuz radikal-religiöser und politischer Extremisten. So wurde er am 14. Februar 1992 bei einem bewaffneten Angriff von mehreren Kugeln aus einer automatischen Waffe getroffen und dabei schwer verletzt. Sein Fahrer sowie sein Begleiter wurden bei dem Angriff getötet.

Am 17. September 2003 wurde das Fahrzeug des Mîr auf dem Weg in die Ortschaft Alqosh von einem sich nähernden Fahrzeug aus mit einer Handgranate angegriffen. Die Granate verfehlte den Wagen des Mîr nur knapp, die Angreifer begannen daraufhin auf das stehende Fahrzeug des Mîr zu schießen. Mit Kalaschnikows versuchten sie den Mîr der Êzîden zu töten. Seine Leibwächter erwiderten das Feuer und drängten die Angreifer zum Rückzug. Der Mîr überlebte leicht verletzt.

In beiden Fällen wurden die Täter oder Hintermänner nie gefasst. Als Mîr lebt man gefährlich, Angst aber, sagt Mîr Tahsîn später, habe er nie verspürt. Sein Großvater, Mîr Alî Beg, wurde, wie viele andere Mîr‘s der Êzîden, ermordet. Die Angriffe seien nicht nur gegen seine Person gerichtet, sondern gegen ihn in seiner Funktion als Oberhaupt der Êzîden.

Persönliche und gesellschaftliche Tragödien

Während seiner Amtszeit erlebt Mîr Tahsîn Beg viele persönliche und gesellschaftliche Tragödien. Mehrere seiner Kinder sterben, die Anschläge und Angriffe auf die Êzîden im Irak verschärfen sich.

Der verheerende Al-Qaida-Anschlag im Jahr 2007 und der anhaltende Völkermord seit August 2014 stellen für ihn einen herben Rückschlag dar. Sie machen seine ohnehin schwierige Aufgabe, die Êzîden zu vereinen und zu stärken, nahezu unmöglich. Trotz seiner gesundheitlichen Lage versucht er jedoch alle Hebel in Bewegung zu setzen, um international um Hilfe für die Êzîden aufzurufen.

Viele Êzîden hofften in dieser Zeit auf eine starke Persönlichkeit, die sie durch die schwierige Zeit führen würde. Die politischen Umstände jener Zeit machen es dem Mîr jedoch praktisch unmöglich, offen über politische Angelegenheiten, die die Êzîden gefährden, zu sprechen. So monierten viele Êzîden, der Mîr stünde zu sehr unter dem Einfluss der regierenden kurdischen PDK-Partei. Er selbst jedoch hat sich nie in dieser Position gesehen und hinter verschlossenen Türen offen über Probleme gesprochen und versucht diplomatische Lösungen zu finden, statt auf offene verbale Angriffe zu setzen. Nicht selten hatte er so zahlreiche politische Vergeltungsmaßnahmen gegen die Êzîden verhindern können, während die Êzîden ihn in der Öffentlichkeit aber immer lauter zu Unrecht kritisierten. Auch diese Episode des Unverständnisses seines Volkes für diplomatische Notwendigkeiten gehören zu den persönlichen Tragödien des Mîr Tahsîn Begs.

Stetiges Spannungsfeld

Mîr Tahsîn Beg bewegte sich seit seiner Amtsübernahme in einem Spannungsfeld zwischen êzîdîschen Bedürfnissen und politischer Realität. Neben seiner Krankheit hat ihn der Völkermord von 2014 sichtlich mitgenommen. Bis zuletzt hoffte er, den seit fast fünf Jahren in Flüchtlingslagern ausharrenden Êzîden aus Shingal eine Rückkehr zu ermöglichen. In unzähligen Interviews und Gesprächen mit politischen und gesellschaftlichen Akteuren versuchte er ihnen die Notlage der Êzîden zu erläutern.  

Unter seiner Führung verlor die êzîdîsche Gemeinschaft jedoch immer mehr an Zusammenhalt. Dies war auch der in der Geschichte der Êzîden erstmaligen Flucht aus allen traditionellen Siedlungsgebieten ins Ausland geschuldet. Der Mîr verlor zusehends innerhalb der êzîdîschen Gemeinschaft im Irak an Gewicht, auch, weil die politischen Umbrüche zu Zerwürfnissen innerhalb der Êzîden geführt haben, die die Position des Mîr schwächten.

Innerhalb der mittlerweile in verschiedenen Staaten lebenden êzîdîschen Gemeinschaften entwickelten sich unterschiedliche gesellschaftliche Dynamiken, die zu kontrollieren fast unmöglich waren. Die Anstrengungen des Mîr in Deutschland etwa, die Êzîden verschiedener politischer Gesinnungen an einen Tisch zu bringen und zu vereinen, wurden von Êzîden selbst torpediert. Das Scheitern aber wurde dem Mîr angelastet.

An Visionen fehlte es dem êzîdîschen Oberhaupt nicht. Oft war er seiner Gesellschaft in bildungspolitischen und gesellschaftlich-sozialen Ansichten weit voraus und musste stets für Verständnis kämpfen. Auch religiös zeigte er etwa für Reformvorschläge ein offenes Ohr, überließ die Entscheidung darüber aber der Gesellschaft selbst. Immer wieder hob er hervor, wie wichtig Bildung für das Überleben der êzîdîschen Gemeinschaft sein würde und ermutigte junge Êzîden, Führungsrollen in der Gesellschaft zu übernehmen. Er sprach sich, trotz seiner eigenen Stellung, gegen viele patriarchalische Einflüsse innerhalb der Êzîden aus.

Aufgrund der zunehmenden Globalisierung der Konflikte in den traditionellen Heimatgebieten der Êzîden stand Mîr Tahsîn Beg vor schier unlösbaren Aufgaben, da die Êzîden weder politisches, militärisches noch ökonomisches Gewicht besaßen. Die êzîdîschen Interessen in einem solchen angespannten Umfeld zu vertreten, zu verteidigen und durchzusetzen, glichen einer Mammutaufgabe, vor denen Mîr Tahsîn Beg als erster Mîr der Geschichte stand. Er musste die Êzîden in die Moderne führen, ohne direkten Zugriff auf die sonst in Ballungsgebieten konzentrierten êzîdîschen Gemeinschaften zu haben.  

Nachfolge

Auch seine Nachfolge sollte nicht wie üblich traditionell vererbt, sondern durch ein êzîdîsches Parlament bestimmt werden, zu dessen Gründung es aber in den vergangenen Jahren aus politischen Gründen nicht gekommen ist.

Seine Nachfolge, sagte er gesundheitlich angeschlagen im Jahr 2013, solle die êzîdîsche Gemeinschaft selbst bestimmen. In den darauffolgenden Jahren übernimmt sein Sohn Hazim Beg die Vertretung seines Vaters. Über die endgültige Nachfolge wird nun der Religionsrat in Lalish beraten müssen. Dass die Êzîden den neuen Mîr jedoch in jenem Ausmaß akzeptieren werden, wie Mîr Tahsîn in den Jahrzehnten seiner Regierungszeit, ist nahezu ausgeschlossen. Die Êzîden befinden sich am Rande des Zusammenbruchs. In einer solche Situation für Stabilität zu sorgen, wird für seinen Nachfolger zu einer lebenslangen Aufgabe werden.

Auch deswegen wird Mîr Tahsîn Beg wohl als der letzte Mîr seinen Platz in der Geschichte der Êzîden einnehmen.

Abschied

Als die Nachricht über den Tod Mîr Tahsîns Begs am 28. Januar 2019 bekannt wird, herrscht selbst unter seinen größten Kritikern große Betroffenheit. Mîr Tahsîn Beg hat wie kein anderer die êzîdîsche Geschichte in den vergangenen Jahrzehnten geprägt. Mit seinem Tod endet eine Epoche und jeder Êzîde, seit dem Völkermord von 2014 ohnehin in einem Zustand der Hilflosigkeit, verspürt, dass eine weitere Säule der Êzîden eingebrochen ist.

Weltweit bekunden politische, religiöse und gesellschaftliche Vertreter ihr Mitgefühl mit der Familie des Mîr aber auch mit den Êzîden. Jene, die Mîr Tahsîn Beg kennenlernten, sahen in ihm einen Fürstreiter für Frieden und Toleranz. Sein diplomatisches Geschick wird den Êzîden in dieser schwierigen Zeit schmerzlichst fehlen. Mîr Tahsîn Beg soll nach Lalish überführt und an der Seite seiner Vorfahren beigesetzt werden.

© ÊzîdîPress, 29. Januar 2019