Hêvî (15), ihre Mutter und Jîlan A. sitzen in einem Rohbau im Nord-irak
Hêvî (15), ihre Mutter und Jîlan Abdal in einem Rohbau im Nord-Irak

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[L]alish.
Für fast alle Kinder und Jugendliche ist es der wohl schönste Tag im Jahr: Man steht im Mittelpunkt des Tages, bekommt Geschenke, viel Liebe und Aufmerksamkeit. Für die 15-jährige Êzîdîn Hêvî* wird ihr Geburtstag jedoch zu dem schlimmsten Tag in ihrem Leben. An diesem Tag wird sie nicht nur ein Jahr älter; er wird auch ihre Jugend beenden und sie jährlich daran erinnern, dass ihr Vater und ihr großer Bruder vor ihren Augen erschossen wurden. Dass sie, ihre Mutter und Dutzende ihrer Verwandten in die Gefangenschaft und Sklaverei der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ gerieten. Hêvî kam nach sieben Monaten frei. Was sie in dieser Zeit über sich ergehen lassen musste, über ihre Gefühle, Wünsche und Perspektiven, darüber hat sie mit der ÊP-Korrespondentin Jilan Abdal gesprochen. Es ist das Zeugnis einer barbarischen, unbarmherzigen Terror-Miliz, aber auch die Geschichte eines jungen, mutigen Mädchens, das einen Völkermord überlebte: Das ist ihre Geschichte, von der die Welt Kenntnis nehmen soll.

Zusammen mit ihrer Mutter sitzt Hêvî in einem kalten, leeren Raum. Das Gebäude ist ein Rohbau. Wind zieht durch die fensterlosen Zimmer, trägt die Klagen trauernder Mütter und Frauen von Raum zu Raum. Der Wind zeichnet die Stimmung, die hier alle spüren – auch ich. Hêvîs Mutter konnte bereits zuvor aus der Gefangenschaft der Terror-Miliz entkommen. Sie übernimmt zunächst das Wort. Sie berichtet von dem Tag, an dem die Terrormiliz die Shingal-Region und ihr Dorf überrennt.

„Als sie [IS-Terroristen; Anm. d. Red.] am 3. August 2014 kamen, schrien sie, dass sie den Islamischen Staat errichten würden“, erzählt sie. „Wir haben auf die Peschmerga vertraut, dass sie uns verteidigen“. Ihre Stimme wird rauer, mischt sich mit Trauer und Wut.

Sie berichtet von ihrer Schwiegertochter, den vier Enkelinnen und dem Enkel, die noch in IS-Gefangenschaft sind. Sie werden in Syrien festgehalten, wie sie von einer freigekommenen êzîdîschen Frau erfahren hat. Sie erzählt von all den männlichen Verwandten, ihrem Ehemann und Söhnen, die in ihrer Gegenwart getötet wurden.

„Wir hissten eine weiße Flagge, in der Hoffnung, dass sie uns in Ruhe lassen. Sie wollten, dass wir zum Islam übertreten. Aber auch wenn sie uns die Köpfe abgeschlagen hätten, würden wir unsere Religion nicht aufgeben“, berichtet sie und zeigt dabei mit der flachen Handkante auf ihre Kehle. Als die Mutter den Raum verlässt, bin ich mit Hêvî alleine. Sie rückt zu mir heran, sucht meine Nähe. Dann beginnt sie zu erzählen, von dem Verbrechen. Dem Völkermord.

Ich versuche in ihren jungen Augen zu lesen, die vom einfallenden Licht hell strahlen. Ihr Blick spiegelt die Ereignisse der vergangenen Monate wieder, die für mich noch immer unbegreiflich sind. Sie möchte erzählen, was ihr widerfahren ist, was die Terroristen ihr angetan haben.

Hêvî (15), sieben Monate in IS-Gefangenschaft
Hêvî (15), sieben Monate in IS-Gefangenschaft

„Ich bin zwar ein Kind, aber kein kleines Mädchen“, sagt sie, ohne den Blick abzuschweifen. „Wir Frauen können genauso kämpfen wie die Männer, niemand soll etwas anderes behaupten. Wir wollen an die Front, uns verteidigen. Wir brauchen lediglich Waffen“. Es sind ihre ersten Worte, als sie nach sieben Monaten aus der Sklaverei entkommt und auf die ersten Widerstandskämpfer der Volksverteidigungseinheiten YPG trifft. Man spürt ihren Drang, stark wirken zu wollen. Aber die Last, ein Trauma in diesem Ausmaß, sind auch für ihre jungen Schultern zu schwer.

„Was geschehen ist, werde ich nie vergessen können, so sehr ich es mir auch wünsche“. Die Hoffnung aber lebt in ihr weiter.

Hêvî hat vier Selbstmordversuche während der Gefangenschaft hinter sich. Zweimal versuchte sie sich die Pulsadern aufzuschneiden, nahm Unmengen an Tabletten, um ihr Leid zu beenden. Dreimal versuchte sie vergeblich zu flüchten. Hêvî überlebte, heute fasst sie neuen Mut, wenn sie an die mögliche Behandlung in Deutschland denkt.

„Man muss mir helfen, damit ich all den anderen Frauen und Mädchen helfen kann. Ich bin bereit zu kämpfen, mein Leben nicht aufzugeben, ich möchte eine Zukunft, eine Ausbildung machen und mich und mein Volk verteidigen“, erzählte sie in gedämpftem, aber ernstem Ton.

Ich frage sie, ob sie bereit ist, von der Zeit in der Gefangenschaft zu erzählen. Sie bejaht.

„Wir waren in unserem Dorf, Til Keseb, als die IS-Terroristen kamen und uns umzingelten“, beginnt sie. Dann fährt sie fort, wissend, was vor ihren Augen geschah: „Sie trennten uns Frauen und Mädchen von den Männern. Sie begannen die Männer zu töten: Meinen Vater, meine zwei Brüder, zwei Onkel väterlicherseits, drei Onkel mütterlicherseits, sechs Cousins väterlicherseits, fünf Cousins mütterlicherseits“. Ihre zwei Brüder, ein Arzt und ein Lehrer, ihr Vater ein hartarbeitender, auf Bildung bedachter Mann.

„Wir hatten ein schönes Leben. Mein Vater kaufte mir ständig Geschenke und mein Bruder nahm mich zu allen Veranstaltungen mit – weil er Arzt war, wurde er oft eingeladen. Ich bin die jüngste von sieben Töchtern, wegen meiner guten Schulnoten haben mein Vater und meine Brüder mich sehr, sehr verwöhnt“, erzählt sie. Zum ersten Mal beginnen ihre Augen zu strahlen, während sie von schönen, vergangenen Momenten mit ihrem Vater und den Brüdern erzählt. Die Freude in ihrem Gesicht lässt auch mich erstmals leicht lächeln. Hêvî lässt zu, dass ich mich in sie hineinversetzen kann. Man merkt ihr an, dass die möglichst lange über die Vergangenheit reden möchte, doch die Gegenwart holt sie ein.

Die ersten Tränen fließen über ihre Wange, sie hält meine Hand, ihre Gesichtsmimik verändert sich.

„Sie brachten uns erst nach Tal Afar, dort selektierten sie uns nach dem Alter. Auf der Fahrt haben sie viele Sprachen gesprochen, mal arabisch, mal türkisch. Sie hatten alle möglichen Nationalitäten. Einige von ihnen hatten einen langen Bart, andere nicht. Dann brachten sie uns nach Mosul, zum Badush-Gefängnis.“

Orte im Nord-Irak, an denen Hêvî festgehalten wurde
Orte im Nord-Irak, an denen Hêvî festgehalten wurde

Dort angekommen geht die Odyssee weiter: Wegen Luftschlägen der Anti-IS-Koalition bringt man die Frauen und Mädchen zurück nach Tal Afar, wo man sie in einer Schule einsperrt. Viele versuchen die hektische Gelegenheit zur Flucht zu nutzen. Diejenigen, die eingefangen wurden, verprügelten oder töteten die IS-Terroristen auf der Stelle, erzählt Hêvî. Nach zwei Monaten bringt man sie wieder nach Mosul. Hêvî, ihre Mutter und ihre Schwägerin werden voneinander getrennt.

In Mosul werden die Frauen und Mädchen in einem dreistöckigen Haus untergebracht, auch Hêvî ist darunter. Auf der Etage, in der sich Hêvî aufhielt, waren etwa 500 weitere Mädchen. Minderjährige.

„Etwa 150 Mädchen waren mit mir in einem Raum. Man legte den Koran vor uns aus, wir sollten daraus lesen und konvertieren. Aber niemand tat es, mehrere Mädchen wurden geschlagen. Wir saßen alle auf dem Boden und durften unseren Blick nicht senken, damit unsere Gesichter sichtbar waren. Wenn wir es doch taten, schlug man uns.“

Männer gehen im Gebäude umher, betrachten die Mädchen einzeln, schauen sich nach besonders hübschen Mädchen um.

„Immer wieder kam jemand herunter und nahm ein Mädchen mit. Ein Mann blieb vor mir stehen, schaute mich an und wollte mich gerade etwas fragen, als sein Mobiltelefon klingelte. Ich nutzte die Gelegenheit und versteckte mich in der Masse. Dann aber kam ein anderer Mann, er nahm mich mit …“, sie bricht in Tränen aus. Was dann geschah, ist bekannt, aber so schwer zu beschreiben, dass ihr die Worte für diese Gräueltat fehlen. Sie wird vergewaltigt. Der Terrorist bringt sie zurück, wirft sie in den Raum zu den anderen Mädchen.

Ihre Freundin wird vor den Augen aller Frauen, Mädchen und Terroristen mitten im Raum vergewaltigt. Die restlichen Mädchen ahnen, was auf sie zukommen wird.

Von 500 Mädchen blieben letztlich 61 übrig. Die 61, darunter Hêvî und ihre Freundin, werden nach Ba´aj verschleppt. Einem Ort im Süden von Shingal, wo viele weitere Êzîdînnen festgehalten werden. Dort befinden sich nicht nur IS-Terroristen, sondern auch die Komplizen der Terrororganisation, ehemalige Baathisten des Saddam-Hussein-Regimes.

„In Ba´aj wurden unsere Namen auf Zettel notiert, dann kamen der Reihe nach IS-Terroristen und zogen einen oder mehrere Namen. Die Mädchen gehörten dann dem Terroristen, waren seine Sklaven, sein Eigentum, seine Kriegsbeute. Meine Freundin und ich gaben uns als Schwestern aus und wurden gemeinsam von einem Mann mitgenommen.“

Die IS-Terroristen schleppen die Frauen zu den verschiedenen Fronten mit, um sie jederzeit „verfügbar“ zu haben. Als Hêvî davon erzählt, dass ihre Freundin vor ihren Augen vergewaltigt wurde, bricht sie erneut in Tränen aus. Immer wenn sie von ihrer Freundin berichtet, wird ihre Stimme schwerer, so, als gehe ihr das Schicksal ihrer Freundin näher als ihr eigenes. Ihre Machtlosigkeit in solchen Situationen war und ist es, die sie innerlich immer wieder bricht.

Aber selbst in dieser ausweglosen Situation, in der jegliche Hoffnung verloren war, kam es noch schlimmer. Der IS-Terrorist, der Hêvî und ihre Freundin als „Kriegsbeute“ versklavt, erhält einen Anruf: auf das Handy eines getöteten êzîdîschen Peschmerga, der nicht aus Shingal flüchtete und bei der Verteidigung der Zivilisten getötet wurde. Sein Handy nimmt der IS-Terrorist an sich. Der Anrufer ist der Bruder von Hêvî, dessen bester Freund der êzîdîsche Peshmerga war.

Der IS-Terrorist hebt ab, fragt den Bruder von Hêvî nach seinem Nachnamen, der ihn aufhorchen lässt. Er starrt auf Hêvîs Ausweis, fragt ihn, wie seine Schwestern heißen. Der Name von Hêvîs Freundin fällt nicht. Der Schwindel fliegt auf. Beide Freundinnen sollen nach zweieinhalb Monaten voneinander getrennt werden.

„Er sagte, er werde mich nun verkaufen. Ich bekam Angst und versuchte dann zu flüchten. Sie konnten mich aber einfangen, dann fesselten sie mich an den Händen und Beinen. Sie begannen mich …“, sie spricht nicht weiter und blickt erneut ins Leere. „Sie haben alles mit mir gemacht, was man sich nur vorstellen kann. Ist das kein Verbrechen?“, fragt sie mit hoher, aufgeregter Stimme in meine Richtung.

„Vor meinen Augen haben sie ein 10-jähriges Mädchen vergewaltigt. Ihre Schreie höre ich jede Nacht im Traum, wieder und wieder.“

Der Namen ihres Peinigers ist ihr bekannt: „Ibrahim Farhan Abdullah, er war 26 Jahre alt, ein Araber aus Cizir (Syrien). Ich würde ihn sofort wiedererkennen“, sagt sie.

Hêvî versucht drei weitere Male zu flüchten, scheitert aber. Beim dritten Versuch flüchtet sie mit etwa zehn weiteren Frauen, die IS-Terroristen können Hêvî allerdings wieder einfangen. Der Rest entkommt.

Sie wird anschließend mit sechs weiteren Frauen in einem Haus nahe der Ortschaft Hay Nasir festgehalten, in unmittelbarer Nähe der Stadt Shingal. Um nicht an einen anderen IS-Terroristen verkauft zu werden, muss sie „gehorchen“, wie sie die Vergewaltigungen versucht zu umschreiben.

„Wir waren für sie wie Nutztiere. So behandelten sie uns.“ Wegen Luftschlägen bringt man sie mal nach Baaj, dann wieder zurück, ständig hin und her.

„In einer Nacht planten wir gemeinsam zu fliehen, aber wir waren zu viele, deswegen verhalf ich zwei Mädchen bei der Flucht. Ich stopfte ihre Betten mit Kissen, damit niemand Verdacht schöpfte und die Mädchen genug Zeit zur Flucht hatten. Sie entkamen“, erzählt sie weiter. Dann versteift sich ihr Blick erneut und sie erzählt weiter.

„Die ganze Zeit habe ich gehofft, dass ein Luftschlag das Gebäude trifft, in dem wir festgehalten wurden. Damit unser Leid endlich beendet wird, wir getötet werden. Bis tief in die Nacht hofften wir auf einen Luftangriff, damit wir wenigstens vielleicht die Chance zur Flucht bekamen.“

Fünf Monate wird sie in Baaj festgehalten. In einem zweistöckigen Haus, mit einem großen Saal auf der ersten und Zimmern auf der zweiten Etage. In jedem der Zimmer sind Mädchen untergebracht. Wächter passen auf, dass keines der Mädchen flieht. Mit der Zeit aber werden sie nachlässig. Diese Chance nutzt Hêvî zusammen mit ihrer Freundin und einem weiteren Mädchen im selben Alter.

„Es war gegen 19.50 Uhr, der IS-Terrorist war an der Front. Gegen 20 Uhr kam er in der Regel zurück, also nutzen wir die wenigen Minuten, um zu flüchten. Wir drei konnten das Schloss aufbrechen, ohne dass einer der Wächter etwas bemerkte. Wir schlichen nach draußen und versteckten uns hinter einem Haus, erst waren wir orientierungslos. Dann beobachteten wir, was die über 45 Wachen und IS-Mitglieder auf dem Gelände taten. Wir liefen los, keiner bemerkte uns. Wir machten keine Pause und rannten immer weiter. Bis tief in die Nacht, gegen 5 Uhr in der Früh erreichten wir die ersten Kämpfer der YPG, die uns aufnahmen.“ Hêvî nimmt den Ausweis des IS-Terroristen mit und übergibt ihn den Kämpfern der YPG.

Hêvî und die beiden Mädchen haben es geschafft. Sie sind aus der IS-Gefangenschaft entkommen. Was sich in einem Satz zusammenfassen lässt, bedeutet mehr, als Worte je beschreiben könnten. Sie hat einen Völkermord überlebt, ist der systematischen Vergewaltigung, der Sklaverei entkommen. Im Jahrhundert der Raumfähren und Planetenerkundungen.

Abschied von Hêvî und ihrer Mutter
Abschied von Hêvî und ihrer Mutter

„Wir wollen internationalen Schutz oder in ein anderes Land auswandern. Wie soll ich zu dem Ort zurück, an dem das Blut meines Vaters, meiner Brüder geflossen ist und ein normales Leben führen? Die Welt muss uns helfen.“

Wegen fehlender Ausweisdokumente, die ihr die IS-Terroristen abgenommen haben, wird eine Behandlung in Deutschland erschwert. Die Bürokratie verhindert die Verarbeitung eines Völkermordes, Papier gegen Blut.

„Mit 15 hat man mir die Kindheit genommen; heute fühle ich mich wie eine alte Frau mit der Last von Jahrzehnten auf dem Rücken“, unsere Blicke senken sich. Als ich weiter muss und mich verabschiede, kommt sie unerwartet auf mich zu und umarmt mich fest. Ich spürte: Das Gespräch entlastete sie, denn sie konnte mir ihre Geschichte anvertrauen.

Hêvî, zu Deutsch Hoffnung, gibt nicht auf. So wie Hêvî warten hunderte weitere Frauen und Mädchen auf Hilfe aus Deutschland und anderen Staaten.

* Name aus Gründen der Privatsphäre geändert 

© ÊzîdîPress, 19. April 2015