Sherfedin-Tempel in Shingal
Sherfedin-Tempel in Shingal


von Rustam Rzgoyan – ÊzîdîPress Russland 

Tempelstätten – sie sind schöne und unbeschreibliche Orte der der Welt, an denen mithilfe verschiedener Sakramente der Mensch versucht Gott näher zu kommen. In Russland sagt man, dass ein „Tempel der Himmel auf Erden ist“. Die Menschen kommen um ihre Gebete und Wünsche zu äußern, nach Vergebung, Frieden und Erlösung im Geiste zu bitten.

Lange Zeit glauben insbesondere die Êzîden in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, es existiere weltweit lediglich ein heiliger Tempel der Êzîden – Lalisch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Öffnung der Grenzen wurde klar, dass auf dem Boden der historischen Heimat der Êzîden dutzende von Tempeln und Schreinen existieren, die das spirituelle Erbe der Êzîden behüten.

Die asiatische Tempelarchitektur zeichnet sich insbesondere durch gewölbten Kuppeln und deren verschiedenartige Spitze aus. In der êzîdîschen Tradition sind vor allem zwei Typen anzutreffen: das Symbol der Sichel an den Tempeln in der Shingal-Region, die an den êzîdîschen Mond-Engel Sheikh Fakhredin erinnern und die mit farbigen Tüchern geschmückten in der Sheikhan-Region. Die sieben verschiedenen Farben stehen für je einen der sieben heiligen Erzengel der êzîdîschen Theologie.

Zehn der bekanntesten êzîdîschen Tempel werden hier vorgestellt. Einige von ihnen sind durch die Schergen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zerstört worden. Die Êzîden hoffen jedoch auf einen Wiederaufbau, sobald die Regionen befreit sind. Wie so oft in ihrer Geschichte.

1. Lalisch – das zentrale Heiligtum nahe der Sheikhan-Region
Lalish (Michael Downey)
Lalish (Michael Downey)


Lalisch, das von Êzîden auch als das „erleuchtende Lalisch“, kurd Lalişa Nûranî, bezeichnet wird, ist das weltweite Zentralheiligtum der Êzîden. Das genaue Entstehungsdatum ist unbekannt. Forscher gehen davon aus, dass Lalisch in vorchristlicher Zeit als Tempel des Sonnenkultes diente. Später wurde es von nestorianischen Christen bewohnt und als Kloster genutzt. Im 12. Jahrhundert erlangte die einheimische Bevölkerung, die Anhänger Sheikh Adis, den Tempel friedlich von den Christen zurück. Sheikh Adi verbrachte den Rest seines Lebens im Lalisch-Tal und wurde zur wichtigsten Persönlichkeit der Êzîden.

Als bedeutendster Tempel der Êzîden war Lalisch immer wieder Ziel von Vernichtungsfeldzügen islamischer Feldherren. Mehrfach wurde der Tempel beschädigt, von den Êzîden aber wieder restauriert.

2. Heiligenstätte des Scherfedin in Shingal
Sherfedin-Tempel in Shingal
Sherfedin-Tempel in Shingal


Diese Heiligenstätte wurde im 13. Jahrhundert zu Ehren des Sheikh Scherfedin, einem der höchsten Heiligen der Êzîden, errichtet und befindet sich im nördlichen Teil des Shingal-Gebirges. Sie ist nach Lalisch die zweitwichtigste Heiligenstätte.

International wurde der Tempel durch eine erbitterte Schlacht zwischen êzîdîschen Widerstandskämpfern und Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS) bekannt: Die êzîdîschen Widerstandskämpfer haben über mehrere Monaten hinweg erfolgreich 10.000 Zivilisten und die Heiligenstätte verteidigt, während die Terrormiliz IS immer wieder versuchte das Gebirge zu stürmen und den Tempel zu zerstören. Selbstmordattentäter der IS-Terrormiliz wurden von êzîdîschen Kämpfern erfolgreich aufgehalten.

3. Heiligenstätte des Meme Reshan in Maklub (Sheikhan-Region)
Heiligenstätte Meme Reshan
Heiligenstätte Meme Reshan


Diese Heiligenstätte wurde im 13. Jahrhundert errichtet. Im 19. Jahrhundert wurde sie stark beschädigt und im Jahr 2011 schließlich restauriert.

Der Tempel wurde zu Ehren von Meme Reshan errichtet. Meme Reshan war einer der ersten Anhänger Sheikh Adis und bis zu dessen Tod sein Schüler. Die Tempelstätte ist im klassischen Stil gebaut und besitzt eine Löwenstatue, die in der êzîdîschen Theologie Mut und göttliche Kraft symbolisiert. Mame Reshan wird in den sakralen Texten der Êzîden auch als „Löwe“ bezeichnet. Der Tempel befindet sich im Norden des Iraks am Fuße des Berg Maklub nahe der Sheikhan-Region.

4. Heiligstätte von Sheikh Mend in Ayn Sifni (Sheikhan, Nordirak)
Sheikh Mend Tempel
Sheikh Mend Tempel


Dieser Tempel wurde vermutlich im 13./14. Jahrhundert gebaut. Die Heiligenstätte wurde zu Ehren des Sheikh Mend Fekhra errichtet, der von den Êzîden als Heiliger und Schutzpatron der Schlangen verehrt wird. Die Architektur weicht von denen der übrigen Tempel ab: die Heiligstätte hat eine quadratische Form und einen flachen Dach ohne Kuppel. Der Eingang ist mit einer schwarzen Schlange, das Symboltier des Sheikh Mend, versehen.

5. Heiligstätte von Pir Bab in Bahzan (Sheikhan, Nordirak)
Tempel des Pir Bab
Tempel des Pir Bab


Die Heiligstätte wurde zu Ehren von Pir Bab, einem der ersten Schüler des Sheikh Adi errichtet und liegt im êzîdîschen Dorf Bahzan in der Sheikhan-Region. Nach êzîdîscher Überlieferung kam Pir Bab nach Bahzan um die Lehre von Sheikh Adi zu überliefern. Die Architektur ist wie die meisten Tempel klassisch. Der Tempel wurde vor mehreren Jahrhunderten zerstört und gegen Ende des 20. Jahrhundert durch das damalige weltliche Oberhaupt der Êzîden, Mir Ali Beg II., wieder aufgebaut. Der Tempel beherbergte sowohl eine Bibliothek als auch eine Religionsschule für Kinder.

Als Terroristen der Miliz „Islamischer Staat“  im August 2014 Bahzan einnehmen, sprengen sie das Heiligtum und zerstören es vollständig.

6. Heiligstätte des Sheikhubekir in Bahzan (Sheikhan, Nordirak)
Heiligenstätte des Sheikhubekir
Heiligenstätte des Sheikhubekir


Die Heiligenstätte wurde zu Ehren von Sheikhubekir, einem treuen Anhänger Sheikh Adis, errichtet und war über 700 Jahre alt. Sheikhubekir lebte ein asketisches Leben und war zu Lebzeiten ein hoch angesehener Mann. Heute wird er von den Êzîden als Heiliger verehrt.

Auch diese Heiligstätte wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts nach einer Zerstörung durch Islamisten vom êzîdîschen Oberhaupt Mir Ali Beg II. wiederhergestellt. Die Heiligstätte liegt oberhalb eines Garten unter Maulbeer- und Olivenbäumen. Der Tempel wurde im August 2014 von Terroristen des „Islamischen Staates“ in die Luft gesprengt.

7. Tempel Sheikh Ale Schemsa in Sheikhan (Sheikhan, Nordirak)
Sheikh Ale Schemsa Tempel
Sheikh Ale Schemsa Tempel


Das Alter dieser Heiligstätte ist nicht bekannt. Sie wurde zu Ehren des êzîdîschen Heiligen Sheikh Ale Schemsa, einer der Söhne des Sheikh Shems, errichtet. Der Tempel liegt auf einem Hügel inmitten eines Friedhofes der Êzîden in der Sheikhan-Region.

8. Heiligstätte des Siltan Ezid in Tiflis (Georgien)
Heiligenstätte zu Ehren Siltan Ezid
Heiligenstätte zu Ehren Siltan Ezid


Der Grundstein dieser Heiligenstätte wurde im Oktober 2012 von hochrangigen Geistlichen aus Lalisch gelegt, der Bau begann im Jahr 2013. Der Tempel wurde am 16. Juni 2015 in Anwesenheit von den Vertretern der Geistlichen in Lalisch, der georgischen Regierung und religiösen Führern verschiedener Religionen eingeweiht. Der Tempel wurde im klassischen Stil der Êzîden gebaut.

Der Geistliche Rat der Êzîden in Georgien hat entschieden, dass das „Tawafa Yezid“, also die jährliche Festlichkeiten die an den Heiligstätten stattfinden, jedes Jahr am Sonntag vor dem Allerseelen-Fest stattfinden wird. Der Tempel bildet für die rund 20.000 Êzîden in Georgien das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum, wo auch Forschungen zur êzîdîschen Religion betrieben werden sollen. Im Jahr 2016 wird die weltweit erste theologische Akademie für êzîdîsche Lehren eröffnet. Der Hof des Tempels ist mit einem Garten und verschiedenen seltenen Pflanzen geschmückt.

9. Die Pilgerstätte der Êzîden in Aknalich (Armenien)
Pilgerstätte der Êzîden in Armenien
Pilgerstätte der Êzîden in Armenien


Die Pilgerstätte der Êzîden in Armenien war die erste, die außerhalb der traditionellen Heimat gebaut wurde. Fertiggestellt wurde die Stätte im Jahr 2012. Die Architektur ist an den klassischen Stil der Heiligenstätte im Irak angelehnt. Der Tempel verfügt über einen Garten und Denkmäler für êzîdîsche Helden sowie eine Versammlungshalle für die lokale Gemeinschaft. Im Jahr 2015 wurde beschlossen, neben dieser Stätte einen großen Tempel (Qub) zu errichten. Die Grundsteinlegung fand am September 2015 statt.

10. Heiligstätte von Haji Ali in Baadre (Sheikhan, Nordirak)
Haji Ali-Tempel in Baadre
Haji Ali-Tempel in Baadre


Diese Heiligenstätte wurde im 14. Jahrhundert zu Ehren des êzîdîschen Heiligen Haji Ali in Baadre in der Sheikhan-Region gebaut. Haji Ali war ein Anhänger Sheikh Adis, der ihn auch 40 Tage lang in seinem Haus in Baadre bewirtete. Die Heiligstätte wurde von Islamisten mehrfach zerstört und im 20. Jahrhundert wieder aufgebaut. Ihre Architektur ist im klassischen Stil gehalten, der Eingang ist mit Pfauen verziert. Êzîdîsche Gräber liegen in unmittelbarer Nähe des Tempels.

Nachwort

Viele der oben genannten Tempel sind stumme Zeugen zahlreicher Massenverbrechen gegen die êzîdîsche Gemeinschaft. Und auch im vergangenen Jahr wurden neben den genannten noch weitere von radikalen Islamisten in Shingal zerstört.

Doch während ganze Imperien samt ihrer Kultur, Religion und teilweise ihrer Sprachen im Schatten der Vergangenheit verschwunden sind, existieren die êzîdîschen Tempel und ihre Geschichte, die Êzîden und ihre Kultur trotz dieser Vernichtungsfeldzüge gegen sie weiterhin. Grund ist der Wille der Êzîden, den sie tief in ihren Herzen tragen, dieses alte Erbe bis zum bitteren Ende zu bewahren.

© ÊzîdîPress, 09. November 2015