Christen und Yeziden demonstrieren in Stuttgart gemeinsam für eine Schutzzone im Nord-Irak
Am vergangenen Samstag, den 23. August 2014, fand in Stuttgart eine konfessionsübergreifende Kundgebung auf Einladung der Syrisch-Orthodoxen Kirche statt. Christen und Yeziden demonstrierten gemeinsam für die Errichtung einer internationalen Schutzzone im Nord-Irak, die die Minderheiten in der Sinjar-Region vor den Gräueltaten der Terrormilizen des ›Islamischen Staates‹ schützen soll.
»Frieden, Freiheit, Schutzzone jetzt!« – Immer wieder skandierten die Demonstranten lautstark ihre Forderung an die Bundesregierung und die Internationale Staatengemeinschaft, eine Schutzzone für die bedrohten Minderheiten der Christen, Mandäer, Turkmenen und Yeziden im Nord-Irak zu errichten. Eine solche Schutzzone könnte nach den Erfahrungen von 1991 heute hunderttausende Menschen das Leben retten. Damals errichtete die UN nach den tödlichen Giftgas-Angriffen des Saddam-Regimes an der kurdischen Zivilbevölkerung eine Schutzzone für die Kurden im Nord-Irak. Christen und Yeziden könnten sich so bei Angriffen der IS endlich selbst verteidigen.
Auch Mizgin Ciftci, Vertreter des Zentralrats der Yeziden in Deutschland, sprach sich in seinem Grußwort für eine internationale Schutzzone aus: »Wir erwarten von der Weltgemeinschaft, alle nötigen Schritte einzuleiten, um die IS nicht nur zurückzudrängen, sondern dauerhaft zu stoppen. Der Notstand, der im Nord-Irak zweifelsohne gegeben ist, ermächtigt die Vereinten Nationen einzugreifen. Eine Schutzzone, die die Sicherheit der Menschen garantiert, muss umgehend eingerichtet werden.«
An der Kundgebung nahmen auch ranghohe Politiker wie Unionsfraktionschef Volker Kauder und Thomas Strobl, CDU-Landeschef in Baden-Württemberg, teil. Beide verteidigten die geplanten Waffenlieferungen an die kurdischen Streitkräfte: »Man kann Terroristen nicht mit Menschenketten und Gebeten stoppen«, sagte Kauder, der sich derzeit mit einer Delegation im Nordirak befindet und dort Gespräche mit christlichen und yezidischen Vertretern führt. »Wir wehren uns auch mit Waffen.« Es dürfe nicht zugelassen werden, »dass das Mittelalter mitten in unsere heutige Zeit kommt«.
Nach der Kundgebung marschierten die Demonstranten friedlich durch die Stuttgarter Innenstadt. Die Veranstalter zählten 3.000 Teilnehmer.
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Das ausführliche Grußwort des Zentralrats der Yeziden in Deutschland:
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
und leider liebe Leidensgenossen,
ich bedanke mich und bin froh, und auch ein wenig stolz, Ihnen heute das Grußwort des Zentralrats der Yeziden in Deutschland überbringen zu dürfen. Mein Name ist Mizgin Ciftci, ich bin 22 Jahre alt und fungiere als Jugendreferent unseres Verbandes.
Unsere Worte übermittle ich in der wohl dunkelsten Stunde der Yeziden seit vielen Jahrhunderten. Sie, die Syrisch-Orthodoxe Kirche, deren Anhänger, in Syrien und jetzt besonders im Irak, ebenso wie wir unter den Repressalien der IS leiden müssen, wissen ganz genau, wovon ich spreche.
Das Volk der Yeziden hat bereits 72 Genozide erlebt und irgendwie – „Gott sei Dank“ – auch tatsächlich überlebt. Diese schrecklichen Szenarien kannten wir, kannte ich, nur aus Erzählungen. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas auch in der aufgeklärten Welt von heute passieren kann. Doch es ist passiert. Die Menschen wurden lebendig begraben oder bei vollem Bewusstsein verbrannt. Menschen, darunter viele Kinder, wurden enthauptet, ihre Köpfe aufgespießt und zur Schau gestellt. Massenvergewaltigungen an den Frauen und Mädchen durch die Mörder der Väter, Ehemänner und Kinder sind ebenso an der Tagesordnung wie Menschenhandel.
Wir reden heute von über einer Million Heimatlosen. Weit mehr als die Hälfte der Yeziden im Irak ist auf der Flucht. Wie auch Sie als Syrisch- Orthodoxe Kirche haben auch wir Yeziden in Deutschland eine große Verpflichtung und Verantwortung für die Brüder und Schwestern im Irak. Diese hoffen, vertrauen und verlassen sich auf uns.
Wir, die wir eine rein ehrenamtliche Organisation sind, wurden – das sage ich ganz ehrlich – von diesen Geschehnissen überrannt. Eine professionelle Medienarbeit musste ebenso organisiert werden, wie Kontakte zu Politikern aufgebaut und Verständnis in der Bevölkerung geweckt werden. Wir mussten Spendenkonten einrichten und viel wichtiger noch, diese Konten mit Leben, sprich Geld füllen. Wir haben all das – ich weiß eigentlich gar nicht mehr wie – geschafft.
Immer wieder haben wir uns über kleine Fortschritte gefreut. Ungefähr 100.000 Menschen waren ins Sinjar-Gebirge geflohen – Tausende sind für immer auf dem Berg geblieben. Sie sind verhungert und verdurstet. Die, die im Kampf gefallen sind, haben noch den humansten Tod gefunden. Die restlichen wurden aus den Bergen gerettet. Doch die Leiden gingen weiter. All diesen Menschen droht noch immer der Tod. Sie leben derzeit unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die, denen es gut geht, harren bei 45 Grad in Zelten aus, froh ein Dach über dem Kopf zu haben und zumindest so viel Nahrung zu bekommen, um überleben zu können. Dieses Glück haben allerdings längst nicht alle. Viele leben auf der Straße – ohne jede Unterstützung. Denn leider kommt die Hilfe zumeist nicht dort an, wo sie am dringendsten gebraucht wird.
In all diesem Leid und Elend mussten wir immer wieder von Dörfern erfahren, die vom „Islamischen Staat“ dem Erdboden gleich gemacht wurden. Die Menschen dort haben wie wir über eine Woche der Massenhinrichtung entgegen gesehen. Diese Menschen haben sich nicht gebeugt, der Zwangskonvertierung nicht zugestimmt und sind so für ihren Glauben und ihre Überzeugung gestorben.
Gerade in diesem Augenblick fürchten wir um das Leben von über 200 Familien und rund 500 Kämpfern. Diese verteidigen unser zweites großes Heiligtum, Șerfedin, unter der Leitung des Deutschen Qasim Șeșo.
Derzeit sind sehr starke IS-Verbände aus Syrien auf dem Vormarsch zu diesem heiligen Ort. Dem Heiligtum droht die Zerstörung, den Menschen ein grausamer Tod.
Trotz aller Ängste richten wir unseren Blick aber nach vorn. Das Leben muss weitergehen, es wird weitergehen.
Wir alle hier sind gefordert, den religiösen und ethnischen Minderheiten beizustehen. Denn dieser Krieg ist viel mehr als eine Auseinandersetzung im Irak, Syrien, oder Nahost. Es ist ein weltweiter Krieg, es geht um „Demokratie“, „Menschenwürde“ und ein „selbstbestimmtes Leben in Frieden und Freiheit“.
Daher erwarten wir von der Weltgemeinschaft alle nötigen Schritte einzuleiten, um die IS nicht nur zurückzudrängen, sondern dauerhaft zu stoppen. Der Notstand, der im Nord-Irak zweifelsohne gegeben ist, ermächtigt die Vereinten Nationen einzugreifen. Wir erwarten den Schutz der notleidenden Bevölkerung durch die internationale Staatengemeinschaft. Eine Schutzzone, die die Sicherheit der Menschen garantiert, muss umgehend eingerichtet werden.
Sichere Drittstaaten, die EU, aber insbesondere Deutschland müssen einen unbürokratischen Zuzug, zumindest auf Zeit gewährleisten. Den traumatisierten Menschen, den Alten, Kranken und Kindern, insbesondere den Waisen muss eine Zuflucht gewährt und eine reelle Chance geboten werden. Gleiches gilt für medizinisch notwendige Betreuung.
Die Grundversorgung der Notleidenden im Nordirak und den Grenzregionen muss allerorts sichergestellt werden.
Ein leichter und unbürokratischer Grenzübertritt in die Türkei muss durch deren NATO-Partner eingefordert und umgehend durchgesetzt werden.
Schließlich und endlich stehen wir alle in der Pflicht, uns um die Kinder zu kümmern. Wenn es nicht eine verlorene Generation werden soll, bedarf es ungeheurer Anstrengungen, umfassender psychologischer Betreuung und ein, soweit wie möglich, sorgenfreies Leben in Sicherheit.
Dies alles hat nichts mit Glauben oder Herkunft zu tun. In dieser Auseinandersetzung geht es wirklich nur um „Gut“ gegen „Böse“. Die IS hat mit vielen Internetveröffentlichungen für Aufsehen gesorgt und findet ihre Anhänger leider auch vermehrt in der westlichen Welt. Hier sind wir alle gefordert, mit offenen Augen durch das Leben zu gehen und diesen Auswüchsen zu begegnen. Dies alles friedlich und mit nötigem Augenmaß. Angriffe gegen moderate Muslime verurteilen wir auf das Schärfste. Der Islam hat rein gar nichts mit diesen selbsternannten Gotteskriegern zu schaffen.
IS operiert mit der Angst der anderen. Doch wir haben keine Angst. Diese Steinzeitmenschen sind ein Relikt aus grauer Vorzeit. Sie leben im Gestern, im Heute ist kein Platz für sie und im Morgen werden sie eine Randnotiz der Geschichte sein, die unendlich vielen Menschen Unglück brachte.
Wir alle hier wünschen uns Frieden und Freiheit für alle Notleidenden im Nord-Irak. Wir freuen uns über die konfessionsübergreifende Zusammenarbeit, die wir auch als einen historischen Anfang für zukünftige Gemeinschaft und Zusammenhalt verstehen.
Die Leiden der Aramäer sind auch unsere Leiden. Und alle Verfolgten da unten haben den selben Traum, dass dieser Alptraum bald vorbei ist – und sie „einfach nur leben“ können, „einfach nur leben“, mehr nicht.
Und so schließe ich mein Grußwort mit einem Zitat aus einem unserer wichtigsten Gebete:
„Gott schütze zuerst die anderen 72 Völker, und dann uns.“
In diesem Sinne möge Gottes Segen immer mit Ihnen sein und den Menschen im Nord-Irak nach vielen Wochen der Dunkelheit bald die Sonne wieder scheinen. Gott schütze die Menschen im Nordirak.
Vielen Dank