Krieg. Ein einfaches Wort, das so viel Schmerz, Leid, Zerstörung, Sklaverei und Armut beschreibt. Die Menschen der Moderne sind sich der Zerstörungskraft dieses Wortes kaum bewusst. Krieg bedeutet nicht nur, dass Tausende, Millionen von Unschuldigen sterben. Die Toten sind tot. Doch Krieg zerstört auch die Überlebenden, verwundet ihre Seelen und verletzt ihre Psyche tiefgreifend. Gebrochene Knochen, ruinierte Gelenke schmerzen, doch sie heilen mit der Zeit. Wie aber soll eine gebrochene Seele, ein zerrüttetes Herz voll Hass, von Rachegedanken erfüllte Gedanken oder unerträgliches seelisches Leid heilen?
70 Jahre ist das Ende des Zweiten Weltkrieges nun her, in dessen blutigem Verlauf mehr als 60 Millionen Menschen starben. Über 26 Millionen alleine auf sowjetischer Seite, für dessen Nachfolgestaaten der 8. bzw. 09. Mai ein Feiertag ist. Ein Tag, an dem sie dem Sieg über Hitler und das NS-Reich gedenken. Ein Tag, der aber auch das Schicksal Abermillionen von Menschen, Familien zerstörte.
Das Jahr 1941. Noch ahnen nur wenige, dass der Krieg ausbrechen wird. Am 22. Juni aber zeichnet sich der Beginn des Krieges an, wie der Herbst sich nach dem Sommer ankündigt. Anfänglich bedeutete der Krieg gegen Hitler-Deutschland für die Völker der Sowjetunion etwas heiliges, einen Akt der Befreiung von der Tyrannei, eine patriotische Pflicht. Im Krieg gegen die Besatzer ihrer Heimat leisteten die sowjetischen Soldaten erstaunliche Heldentaten; ihre Frauen, Mütter und ihre Kinder, die hinter der Front zurückblieben, unterstützen die Soldaten aufopferungsvoll. Der Staat forcierte seine Kräfte unter dem Motto: „Alle an die Front, Alles für den Erfolg“. Die Menschen wollten sich nicht unterjochen lassen, sie riskierten alles was sie hatten – ihr Leben. Viele dieser Soldaten wurden zu Helden und die Erinnerungen an ihre Taten leben bis heute fort. Unter ihnen befanden sich auch zahlreiche Êzîden, die Jahrzehnte zuvor Schutz in der Sowjetunion suchten. Ihre Loyalität gegenüber ihren Rettern war so groß, dass sie es auch als ihre Pflicht ansahen, in den Krieg gegen Hitler-Deutschland zu ziehen und ihre neu gewonnene Freiheit Seite an Seite mit den Sowjetvölkern zu verteidigen.
Laut dem Zensus des Jahres 1926, als die Êzîden noch als eigene Ethnie und separat von Kurden erfasst wurden, betrug ihre Zahl in der Sowjetunion 14.523. So gering ihre Zahl auch war, umso größer war ihre Beteiligung im sowjetischen Krieg gegen Hitler. Die êzîdîschen Helden verteidigten Moskau, befreiten Leningrad, Stalingrad, den Kaukasus, die Krim, Warschau, Budapest, Wien, eilten zur Oder-Neiße-Grenze und kämpften in der Schlacht um Berlin. Am Ende des Krieges wurden viele dieser Helden zu Intellektuellen und blieben freien Êzîden. Unter ihnen etwa Persönlichkeiten wie Kanate Kurdo, der in der Nachkriegszeit zu einem der renommiertesten Professoren der Sowjetunion wurde. Kachache Murad diente ebenfalls als sowjetischer Soldat im Zweiten Weltkrieg und wurde nach dem Krieg zu einem der bekanntesten Dichter des Landes. Seine Heldentaten und sein Mut wurden mit zwei „Orden des Roten Sterns“ und zahlreichen Medaillen und Auszeichnungen belohnt. Er wurde als „Kriegsheld für die Verteidigung von Königsberg“ und über den „Sieg gegen Deutschland“ geehrt.
In der Schlacht zur Befreiung des heutigen Litauens am 22. Juni 1944 vor Kavarskas, als der sowjetische Kommandant zweier Regimente fiel, übernahm der Êzîde Sabri Meto den Oberbefehl über das zweite und dritte Regiment und widersetzte sich entschlossen dem Feind. Der Feind konnte dem ersten Angriff jedoch standhalten, die Regimenter unter der Führung von Sabri Meto jedoch setzten erneut zum Gegenangriff an. In dieser Schlacht konnten sie acht Panzer und fünf Panzerabwehrgeschosse zerstören, über 60 Nazis festnehmen sowie dutzende schwere Maschinengewehrstellungen liquidieren. Für seinen Erfolg und Mut wurde General Sabri Meto als Befehlshaber des zweiten Regimentes am 3. November 1944 mit dem Kriegsorden ersten Ranges ausgezeichnet.
Celile Shekro
Das Leben von Celile Shekro war wie das vieler Êzîden aus der Region Serhed in der heutigen Nordost-Türkei beschwerlich. Wegen dem Massenmord türkischer Soldaten an Êzîden in den Jahren 1915 bis 1918, waren seine Eltern gezwungen ihre Heimat zu verlassen und flüchteten in die heutige georgische Hauptstadt Tiflis, wo sie Zuflucht fanden. Ohne dieses Asyl und dem Schutz wäre die Familie Shekro wie viele andere Êzîden auch schlicht verhungert. Die Familie Shekro überlebte jedoch diese aufzehrende und schwierige Zeit.
Im Alter von 15 Jahren, im Jahr 1924, begann Celile Shekro in einer Druckerei zu arbeiten. Im Jahr 1929 siedelte seine Familie in das Dorf Duzkend um, in das damalige sowjetische Armenien. Als er im Jahr 1931 seine Wehrpflichtsausbildung in der Roten Armee absolvierte, entschloss er sich seiner neuen Heimat als Soldat zu dienen. Jenen, die ihn und seine Familie in Schutz nahmen. Unermüdlich beschäftigte er sich mit dem Studium der Militärstrategien. Vor Beginn seiner Tätigkeit als Regiment-Führer im Zweiten Weltkrieg, wurde er in Leninakan für seinen politischen und militärischen Dienst zusammen mit den Verantwortlichen der ArSSR im Jahr 1935 in Moskau vom Partei- und Staatsführer empfangen und mit dem „Ehrenabzeichen“ ausgezeichnet.
Celile Shekro diente 24 Jahre als Soldat der Sowjetunion. Er stieg vom geschätzen, aber einfachen Soldaten zum Oberstleutnant der Garde auf. Seine Brust zierten fünf Orden und zahlreiche weiter Medaillen. Jede einzelne stand für seinen Mut. Im Dezember 1944, als das 186. Panzerbataillon in zweiter Front am baltischen Fluss um die Befreiung von Litauen kämpfte, war der stellvertretende Führer des zweiten Panzerbataillons Celil Shekro im Krieg um das Dorf Turna allzeit auf dem Schlachtfeld. Das Dorf wurde von Panzern belagert, Celil Shekro führte den Gegenangriff des zweiten Bataillons. Er fürchtete nicht um sein Leben. Dem Artillerie- und Sperrfeuer des Feindes ausgesetzt, sah er seine Aufgabe darin, das Bataillon weiterhin zusammenzuhalten. Dank Shekros Entscheidung konnte der Weg für die nachfolgenden Brigaden freigehalten werden.
Während der Schlacht um das Dorf Buka wurde der sowjetische Oberbefehlshaber des Bataillons verletzt; Celile Shekro übernahm das Kommando des Bataillons und konnte den Feind erfolgreich zurückschlagen. Mit der Befreiung des Dorfes Buka konnten über 100 feindliche Soldaten gefangengenommen werden. Dieser Erfolg wurde der verantwortungsvollen, persönlichen Führung des Bataillons Shekros zugeschrieben, wie es später hieß.
Am 25. Dezember 1944 wird General Celile Shekro für seine Tapferkeit in der Schlacht von Turna und Buka mit dem Kriegsverdienstorden ersten Ranges ausgezeichnet. Den zweiten Kriegsverdienstorden ersten Ranges erhielt Shekro für die Führung der 53. Division in der Schlacht um Khingara, die er zusammen mit der 520. Division führte. Als auch hier der Oberbefehlshaber der Division erkrankte, übernahm Shekro das Kommando über die gesamte Division.
Der Preis des Sieges
Jährlich erinnert die êzîdîsche Familie Mihoyî an die drei Brüder, die im zweiten Weltkrieg alle auf dem Schlachtfeld kämpften und nie zurückkehrten.
Noch keine 21 Jahre alt war der jüngste der Bruder, Feto, als er im Herbst des Jahres 1940 zur Armee ging. Er war in Vladimir-Volinske, einem Grenzort im Westen der Ukraine, stationiert und gehörter der 202. Kompanie an. Feto sandte regelmäßig Briefe nach Hause. In seinem letzten Brief, Anfang Juni 1941, gab er vor Ausruf des Krieges bekannt nach Hause kommen zu wollen. Er berichtet außerdem von der Front, wo die Lage sehr angespannt sei und wo es viel militärische Bewegung gäbe. 20 Tage nach seinem Brief stürmten die faschistischen Horden Hitlers dann die Sowjetunion.
Feto und einige seiner Freunde waren für die Verteidigung der Vorräte in den Kühlräumen sowie der Verteidigung des Waffenarsenals zuständig. Kurz darauf erhielt seine Familie folgende, knappe Nachricht: „Euer Sohn – Feto Qaymaz Mihoyî – wird vermisst“.
Der mittlere der drei Brüder der Familie Mihoyî, Ordo, zog noch im selben Monat, im Juni 1941, auf eigenem Begehren hin in den Krieg. Er war Lehrer und Direktor der Schule in seinem Heimatdorf. Sein Traum war es ein Sprachenzentrum für Kurmandschi zu errichten; dazu kam es aber nicht, da der Krieg vor der Tür stand und drohte, alle in den Abgrund zu reißen. Zunächst wurde Ordo in den Iran beordert. Darauf musste er im Jahre 1943 in den Nordkaukasus und dort seinen Dienst leisten. Anschließend diente er direkt an der Kriegsfront. Der dritte und älteste Bruder, Oskan, fiel im selben Jahr wie Feto in der Schlacht zur Befreiung der Stadt Mosdok. Oskan wurde zuvor verwundet, kehrte nach seiner Genesung an die Front zurück und starb dort.
„Es war großes Unglück, welches über die Familie Mihoyî kam“, sagt die Familie heute. Das Leid und die Sorgen der Familie Mihoyî waren unermesslich, berichteten die Nachfahren später. Und nicht nur dieser Familie ist es so ergangen: Alle aus dem Heimatdorf der Mihoyîs Baysiyê hatten Opfer zu beklagen. Allein aus diesem kleinen Dorf gingen 27 Männer in den Krieg, von denen nur zehn zurückkehrten. „Der Tag des Sieges ist für unsere Familie ein heiliger Tag“, sagt Prîskê Mihoyî, Sohne der Mihoyî Familie und Schriftsteller. „So wie dieser Tag für das gesamte russische Volk von großer Bedeutung ist, so ist er es auch für uns“, erklärt er. „Diese Heldentaten und dieser Mut unserer Kämpfer und Soldaten werden niemals in Vergessenheit geraten. Sie haben für uns mit Würde und für einen hohen Preis diesen Sieg errungen. Der heutige Tag sagt uns, dass wir niemals vergessen sollten wie schön der Frieden und wie kostbar und wertvoll das Leben eines jeden Menschen ist“.
Partisanenkämpfer
Viele Êzîden kämpften in den Reihen der Partisanen, die vor allem an der Zerstörung der Logistik der Nazis in Russland große Verdienste zu verzeichnen haben. Zu den bekanntesten êzîdîschen Partisanen gehörten Cemal Cangoyan, der in der heutigen Ukraine kämpfte sowie Usiv Teyar Nihoyan, der in Frankreich als Partisane aktiv war. Sivike Eli Siloyan kämpfe auf Seiten der 89. Division in Reihen der Armenier und war an der Befreiung viele Dörfer und Städte im Norden des Kaukasus beteiligt. In derselben Division kämpften auch Chechoye Temo Kochoyan (aus dem Dorf Kelkûta in der Gemeinde Telin in Armenien), Kereme Kelesh Asadyan (aus dem Dorf Mireke in der Gemeinde Aparane in Armenien) und viele weitere Êzîden. Innerhalb dieser Division stieg der Êzîde Kereme Kelesh im 7. Bataillon des 400. Regiment zu Bekanntheit auf, da er vom 1. September bis zum 4. Oktober alleine 27 feindliche Soldaten getötet haben soll.
Amoev Rezo Romanovich (Rezo Amo Mandekî) wurde im Jahr 1905 im Vilayet Van im Osmanischen Reich geboren. Im Alter von 9 Jahren floh er zusammen mit seinen älteren Brüdern Ado und Resho sowie mit seinen Schwestern Kezan und Nana vor dem Völkermord der Jungtürken in das Russische Reich. Zunächst ließen sie sich in Armenien nieder. Als Volljähriger siedelte Rezo dann nach Tiflis über, um dort zu arbeiten. Im Jahr 1932 heiratet Rezo seine damalige Freundin Tejoeva Balgizar. Sie gründen eine Familie. Balgizar widmete ihr gesamtes Leben liebe- und aufopferungsvoll ihrer Familie, erzählt die Familie stolz bis heute. Im Jahr 1938 wurde Rezo von der Roten Armee eingezogen und kämpften ein Jahr später im sowjetisch-finnischen Krieg. Seine Frau, so wird erzählt, betete jeden Tag, dass ihr geliebter Ehemann gesund zurückkehrt.
Im Jahr 1941 zog Rezo dann in den „Große Vaterländische Krieg des sowjetischen Volkes“ und kämpfte vor allem in der Region Kertsch auf der Krim. Für seinen tapferen Einsatz an den Kampfhandlungen wurde er zum Kommandeur des Luftabwehrregimentes ernannt. Im Jahr 1942 wurde er schwer am Oberschenkel verwundet und kam in das Militärkrankenhaus in Kirowabad (heute Ganja). Nach seiner Genesung war er für den Kriegsdienst an der Front ungeeignet und wurde zur Militäranlage nach Tiflis versetzt, um dort Militärtechnik in Stand zu setzen. Nach Beendigung des Kriegs war Rezo vor allem als Hausmeister tätig um später dann in die Politik zu wechseln. Er wurde zum stellvertretenden Bezirksrat gewählt, von 1965 bis 1972 war Rezo Mitglied im Stadtrat. Für seine Kriegsverdienste erhielt er dutzende Orden und Medaillen.
Êzîdîsch-Russischer Nationalheld
Der wohl bekannteste Êzîde im „Großen Vaterländischen Krieg“ war Semend Eli Siyabendov. Siyabendov wurde am 20. September 1909 in Asandzhan (Kars-Region) als Sohn einer Bauernfamilie geboren. Er studierte am Leningrader Institut der Sowjetunion Orientalistik und wurde ab dem Jahr 1931 Mitglied der KPdSU und machte zunächst politische Karriere. Er wurde zum ersten Stellvertreter der Kommunistischen Partei Armeniens in Alaverdi. Ab 1941 gehörte er dann dem leninistischen Zentralkomitee der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion an und war Minister für Landwirtschaft in der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Ab 1941 diente er dann in der Roten Armee. Er lehrte unter anderem in der politischen Infanterie-Division, im militärischen Kommissariat für Infanterie-Regimente, war stellvertretender Kommandeur der Infanterieregimente und Leiter der politischen Abteilung. Als Oberstleutnant des 755. Infanterieregiments der 217. Division kämpfte er an der weißrussischen Zentralfront der Roten Armee. Am 7. September 1944 war er im Kampf um die strategisch bedeutende Brückenüberquerung nahe der polnischen Ortschaft Dzebendyz involviert und führte die Regimenter, die die Feinde belagerten.
Per Dekret aus dem Präsidium der Obersten Führung der UdSSR wurde Siyabendov am 24. März 1945 für seinen Heldenmut im direkten Kampf gegen die Nazis an vorderster Front der höchste Ehrentitel „Held der Sowjetunion“ verlieh und erhielt unter anderem auch die „Gold-Medaille (№ 5980)“. Daneben wurde Siyabendov mit dem „Orden von Lenin“, zweifach mit dem „Roten Banner“, zweifach mit dem „Orden des Vaterlandskrieges ersten Ranges“, zweifach mit dem „Orden des Vaterlandskrieges zweiten Ranges“, dem „Roten Stern“, zweifach mit dem „Ehrenabzeichen der Sowjetunion“, der „Medaille für Heldenmut“ sowie zahlreichen weiteren Abzeichen ausgezeichnet. Siyabendov gilt bis heute als Held in Russland.
Leider kehrten vom Zweiten Weltkrieg nicht alle Êzîden zurück zu ihren Familien. Viele von ihnen haben ihr Leben für die Freiheit und auch für ihr neues Vaterland geopfert. Es war das erste Mal, so erzählen es die Älteren, dass die Êzîden sich mit einem Staat, der UdSSR, verbunden fühlten und das Gefühl eines Mutterlandes verspürten. In einem Land, in dem man sie gleichberechtigt wie Geschwister behandelte, weil auch sie die größten Opfer zur Verteidigung brachten – das Leben.
Die Zeit vergeht schnell, Jahre, Jahrzehnte ziehen vorbei. Aber der Heldenmut dieser Menschen, die die gesamte Menschheit von einem der schrecklichsten Terrorregime befreiten, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Êzîden haben für den Kampf gegen dieses tiefgründig böse Regime Blut vergossen und ihr Leben gelassen.
In ewiger Erinnerung an die Helden, an unsere Helden.
© ÊzîdîPress, 9. Mai 2015
Memo Agatî, Rustam Rzgyoan
ÊzîdîPress-Russland
Zuletzt redaktionell bearbeitet am 08.05.2020