Newaf Mîro /privat
Newaf Mîro /privat

Aus dem Kurdischen übersetzt; Autor: Newaf Mîro

Ich sitze in einem Park, im Schatten eines alten und großen Baumes, auf einer Bank und blättere in meiner Zeitung. Nebenbei beobachte ich die Blumen neben der Bank und die spielenden Kinder auf der Wiese, auf Bäumen sind lauter Vögel, die immerfort zwitschern. Zufrieden, wie ich im Augenblick bin, lehne ich mich zurück und genieße den hellen schönen Sommertag, der  mir unheimlich viel Kraft gibt, mir guten Mut macht.

Eine alte Frau läuft auf zwei Krücken in den Park. Jeder Schritt ist schwer und mühsam, sie macht Mitten im Park halt und steht da eine Weile. Sie schaut nach links, nach rechts und scheint nicht weiter zu können! Kurz darauf erblickt sie mich auf der Bank und läuft langsam zu mir hinüber. Als sie endlich bei mir ist, fragt sie freundlich, ob sie sich hinsetzen darf. „Ja, natürlich, bitte sehr!“ sage ich und rücke auf der Bank, auf der ich sitze, ein Stück zur Seite, damit sie neben mir Platz nehmen kann. Ich ziehe mich bald wieder hinter meine Zeitung zurück und beobachte die alte Frau neben mir unauffällig weiter. Ich spüre, dass auch sie mich beäugt. Ich habe das Gefühl, dass sie mir etwas sagen will, vielleicht will sie mich was fragen, denke ich, wo ich herkomme, oder wie lange ich in Deutschland lebe usw. Das sind die allerersten Fragen, welche die Deutsche gewöhnlicher Weise stellen, wenn sie auf einen Ausländer treffen.- Stattdessen wendet sie sich mühevoll zur Seite, bleibt da eine Weile regungslos. Ich nehme an, dass sie sich nicht traut oder mich beim Zeitunglesen nicht stören will. Ich lege die Zeitung weg und frage sie, ob sie jemanden sucht. Sie hört mich gar nicht. Kurz darauf merkt sie, dass ich sie angesprochen habe. „Suchen sie vielleicht jemanden?“ frage ich sie erneut. „Nein“ sagt sie „nicht mehr.“ „Die, die ich suche, sind weg. Alle sind weg!“  Wo sind sie hin?“ frage ich sie diesmal. „Jeder woandershin“ sagt sie. Ihrer Stimme haftet Trauer an, tiefe Trauer, der ich seit langem nicht Zeuge geworden bin. Sie tut mir leid. Sie schaut auf, sucht meine Blicke und sagt, dass jeder Mensch eine Geschichte sei, wenn die Geschichte zu Ende sei, so sei auch der Mensch zu Ende. So gehe es ihr. Ihre Geschichte sei seit geraumer Zeit zu Ende gegangen, es fehle nur der Punkt hinter dem letzten Satz. Ich frage sie, ob sie mir ihre Geschichte erzählen mag. Sie antwortet, dass sie mir die wertvolle Zeit nicht nehmen möchte. „Nein“ sage ich, „ich höre gern Geschichten!“

Sie erzählt mir, dass sie Gertrude hieße und dass viele sie für verrückt, gar für behindert halten würden, weil sie alt und alleinstehend sei.  Sie sagt, dass die Menschen solange nichts davon wissen würden und es ihnen egal sei, dass die Einsamkeit einen verrückt und ja krank machen würde, bis sie selber eines Tages allein und einsam dastehen. Sie sagt, dass niemand vor Freude verrückt werden würde, wenn ja dann bestimmt sehr wenige, vor Sorgen, Kummer und Angst jedoch sehr viele.

Die Zeit verginge wie der Wind, wie auch die Jugend und Schönheit, heute da, morgen wieder weg, für immer! Was bleibe, seien ein paar gute Erinnerungen, sagt sie, die auch verblassen würden, von Tag zu Tag, sodass am Ende auch diese gänzlich weg wären, wie ein Stück verbranntes Papier im Wind, der nie stehen bleiben und alles davon jagen würde, erzählt sie. Als Kind hätte sie nicht geglaubt, eines Tages erwachsen zu werden, sagt sie. Sie hätte Krieg, Elend und Hungersnot erlebt, sie sei trotzdem glücklich gewesen, so schwer wie heute aber sei das Leben nicht gewesen, obwohl man heutzutage alles und jedes im Übermaß hätte, sei man trotzdem unglücklich. Sie denke, redet sie weiter, dass dieses Übermaß an Dingen, die den Menschen zur Verfügung stünden, die Quelle ihres Unglücks sei.

Sie erzählt, dass sie schon ein nettes Leben geführt hätte, als Kind, dann als junge Frau, mit der Familie, mit Freunden, später dann mit ihrem Mann und ihrer eigenen Familie. Sie hätte keine Sekunde an Alter, körperliche Schwäche, Krankheiten und Tod gedacht. Sie hätte gelebt wie ein Schmetterling von Tag zu Tag. Sie hätte gern getanzt, sagt sie, auch gern gesungen und vor allem hätte sie sehr gut gekocht für Familie und Freunde.

Die zwei Kinder, die sie auf die Welt gesetzt hätte, wären denselben Weg gelaufen. Schule, Studium, Beruf und nun jeder woanders. Hinzu käme der Tod des Ehemannes. Ab da sei für sie alles bergab gegangen.  Sie hätte nicht mehr gekocht. Sie wüsste nicht für wen? sagt sie. Sie sei nicht mehr vor Spiegel gegangen, sie hätte sich nicht mehr schön angezogen, sie wüsste nicht wozu? Sie hätte sich immer leerer und ärmer gefühlt. Der Lebensrhythmus, den sie mal gehabt hätte, sei für immer weggewesen, sagt sie.  Sie kenne keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht. Sie würde wie bekloppte in der Wohnung hin und her laufen, ohne zu wissen warum! Das Essen schmecke ihr nicht mehr, sie könne nicht schlafen, sie hätte viel Angst, sie würde Fenster und Türen abschließen, in der Nacht immer wieder kontrollieren, ob sie tatsächlich geschlossen wären, sagt sie.

Seit ein paar Tagen gehe es ihr wieder gut, trotz mancher Schmerzen, erzählt sie weiter. Sie würde sich wieder auf die Straße unter Menschen trauen. Das Leben sei so wertvoll, dass man keine Sekunde davon vergeuden dürfe, sagt sie.  Sie hätte beschlossen, die ihr gebliebene Zeit nicht in Angst und Sorge zu verbringen, sondern zu nutzen so gut wie es ihr eben möglich sei. Sie möchte wieder ins Theater, ins Kino wie sie es früher so gern gemacht hätte, sagt sie.

Es freut mich sehr, das alles von ihr zu hören. Von der sorg- und kummervollen Frau vor ein paar Minuten ist in der Tat nichts übrig geblieben. Sie wirkt erleichtert und froh durch das Gespräch mit mir. Sie sagt, dass jüngere Menschen keinen Wert auf Kontakt und Gespräche mit Älteren legen würden. Es sei schade, sagt sie, denn sie würden irgendwann genauso alt werden wie sie jetzt sei und würden vor ähnlichen Problemen stehen! Das sei die Gerechtigkeit des Lebens.

Sie bedankt sich bei mir, ich mich bei ihr  für das nette Gespräch. Wir stehen auf und sie macht sich dran, zu gehen. Auf Krücken zieht sie langsam, doch mit einer gewissen Würde und Stolz durch den Park.

07.08.13 Newaf Mîro