Hannover. Die Zahl der in Deutschland lebenden Êzîden liegt bei über 200.000. Das zeigen Statistiken des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sowie Schätzungen zu den bisher in Deutschland lebenden Êzîden. Damit bilden die Êzîden in der Bundesrepublik die weltweit größte êzîdîsche Diaspora-Gruppe. Mindestens 25% der weltweit geschätzten 800.000 Êzîden lebt in Deutschland.

Von 2007 bis Dezember 2017 haben 113.316 Angehörige der êzîdîschen Minderheit Asylerstanträge gestellt, wie offizielle Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zeigen. Für 2018 werden mit dem Zuzug von Familienangehörigen bereits in den Jahren 2016 und 2017 anerkannter Flüchtlinge weitere tausende Êzîden erwartet. Zudem haben bisher nicht alle der in 2017 im Rahmen der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik eingereisten Êzîden einen Asylantrag gestellt und werden damit noch nicht in der Statistik des BAMF erfasst.

Starker Anstieg seit 2014

Bis 2014 belief sich die Zahl der jährlichen Asylanträge unter 7.000. Es waren bis 2011 vor allem Êzîden aus dem Irak, die nach Deutschland flüchteten. Mit Beginn des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 nahm die Zahl der êzîdîschen Flüchtlinge aus Syrien deutlich zu, blieb im Vergleich zur Gesamtzahl der Asylerstanträge von syrischen Flüchtlingen und Êzîden im Gesamten jedoch gering.

Mit dem Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) gegen die Êzîden im nordirakischen Shingal im Jahr 2014 stieg die Zahl der nach Deutschland geflüchteten Êzîden stark an. Während von 2007 bis 2014 ca. 38.500 Êzîden nach Deutschland flüchteten, waren es in den Jahren 2015 und 2016 rund 61.500. Im Jahr 2017 stellten 13.300 und damit weit weniger Êzîden Asylanträge als in den beiden Jahren zuvor. Seit 2014 haben demnach 81.300 Êzîden Asylanträge gestellt.

Von den seit 2007 113.316 nach Deutschland geflüchteten Êzîden sind knapp 80% aus dem Irak, dahinter Syrien mit 15%. Aus dem Irak flüchteten demnach seit 2007 88.876 Êzîden in die Bundesrepublik, 16.710 weitere aus Syrien. 7.432 Êzîden migrierten aus anderen Staaten, darunter die Türkei, nach Deutschland.

Die bereits in dritter Generation in Deutschland lebenden Êzîden kamen zunächst als Gastarbeiter aus der Türkei in den 60er Jahren. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre begann die größte Fluchtwelle von Êzîden aus der Türkei. Schätzungsweise 40.000 suchten in dieser Zeit Zuflucht in Deutschland, wo sie als verfolgte Minderheit Asyl erhielten. Viele dieser haben seitdem eigene Familien gegründet. Ihre Zahl dürfte sich daher mindestens verdoppelt haben. Die meisten Êzîden leben in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen.

In der Türkei lebt heute praktisch kein Êzîde mehr. Ein ähnliches Schicksal erwartet seit 2011 die êzîdîsche Gemeinschaft aus Syrien – und seit 2014 auch die Êzîden aus dem Irak. Über 200.000 der einst etwa 600.000 Êzîden im Irak sind bereits aus dem Land geflüchtet.

Vermehrte Abschiebungsandrohungen

Wenngleich die Anerkennungsquote für Êzîden als besonders gefährdete Gruppe bisher sehr hoch war und die Asylanträge daher in den allermeisten Fällen positiv beschieden wurden, so hat das BAMF seine Praxis offensichtlich nunmehr geändert. In den vergangenen Monaten kam es vermehrt zu Ablehnungsbescheiden und Abschiebungsandrohnungen des BAMF von Êzîden aus dem Irak – auch von Êzîden aus der Shingal-Region. Also aus einem Gebiet, in der die Folgen des andauernden Völkermordes noch gegenwärtig sind und in dem UN-Experten erst jetzt ihre Ermittlungen zu den Verbrechen der Terrormiliz IS aufnehmen werden.

Den Betroffenen bleibt nur das Klageverfahren vor Verwaltungsgerichten. Das BAMF begründet seine negativen Bescheide unter anderem damit, dass die Gefahr für Êzîden durch die Vertreibung des IS aus dem Nordirak beseitigt sei und verweist damit auf künftig vermutete ausbleibende Verfolgung – zu Unrecht. Ursächlich für die Flucht der Êzîden ist die bereits bei der Flucht bestehenden religiöse Verfolgung, weshalb sie als vorverfolgte Gruppe gelten und ihnen damit zumindest der subsidiäre Schutz zuerkannt werden müsste. Weder die irakische Armee noch die kurdischen Peshmerga im Nordirak waren bereit, die Êzîden gegen den Ansturm des IS zu verteidigen. Auf den Schutz innerstaatlicher Sicherheitskräfte können die Êzîden daher nicht uneingeschränkt vertrauen.

Den Êzîden aus dem Irak eine Rückkehr in eine Region zuzumuten, wo ihre ermordeten Verwandten noch immer in verschütteten Massengräber liegen, stößt auf breites Unverständnis. Über 80% der Region liegt in Trümmern. Viele Häuser, vor allem in der Stadt, sind mit Sprengfallen des IS versehen. Über 60 Zivilisten kamen so im vergangenen Jahr bei Explosionen und durch anhaltende Angriffe sunnitischer Extremisten – ehemalige Nachbarn der Êzîden – ums Leben.

Bürger zweiter Klasse im Irak

Und noch immer leben hunderttausende Êzîden im Irak als Binnenvertriebene in Flüchtlingslagern. Der politische Wille, das Hauptsieldungsgebiet der Êzîden wieder aufzubauen, blieb aufgrund politischer Spannungen weitestgehend aus. Êzîdîsche Verantwortliche beklagen, die Êzîden würden sowohl von der irakischen Regierung als auch von der kurdischen Autonomieregion als Bürger zweiter Klasse behandelt. Tägliche Diskriminierungen sind üblich. Für eine Zukunft der êzîdîschen Minderheit in dem zerrütteten Land fehle es an einer Perspektive. Ähnlich ergeht es den Christen in der Region.

Den Minderheiten im Irak droht ein Verlust der Heimat und keiner der großen politischen Akteure scheint bereit, langfristige Lösungsansätze umzusetzen.

© ÊzîdîPress, 26. März 2018