Mosul (Irak) – Als Terroristen des Islamischen Staats (IS) am frühen Morgen des 3. August 2014 ihr Dorf in Shingal stürmen, schläft Hana noch. Was an diesem Tag geschieht, wird ihr das Leben der Êzîdîn dramatisch verändern. Hana (25) lebt nach ihrer Heirat mit ihrem Mann im Haus ihrer Schwiegereltern in einem kleinen Dorf im Süden Shingals, wenige Kilometer vom Gebirge entfernt.
In der vergangen Nacht haben IS-Terrorschergen mit dem Ansturm auf die Region Shingal im Nord-Irak begonnen. Nach stundenlangen Kämpfen ziehen sich die dort eigentlich zum Schutz der Êzîden stationierten Peshmerga Truppen zurück – und überlassen die Bevölkerung ihrem eigenen Schicksal. Shingal ist das traditionelle Siedlungsgebiet der Êzîden, in der die Religionsgemeinschaft seit Jahrtausenden beheimatet ist. Schätzungsweise über 500.000 Êzîden und somit etwa die Hälfte der gesamten êzîdîschen Population leben in der politisch umstrittenen Region. Als strategisch wichtige Grenzregion zu Syrien, war der Ansturm auf die Region Shingal nur eine Frage der Zeit. Am 3. August begann die Offensive des IS schließlich.
Schreie der Frauen und Kinder auf den Dorfstraßen, die versuchen vor den vorrückenden Terroristen und den nun zu Schlächtern avancierten sunnitischen Nachbarn zu flüchten, reißen Hana aus dem Schlaf. Mit den wenigen Waffen die sie haben, erwidern êzîdîsche Männer das Feuer auf die IS-Sturmkommandos und ihre ehemaligen Nachbarn, Gewehrsalven der Terroristen bahnen sich den Weg auch bis zu Hanas Haus. Dann geht alles ganz schnell: Zeit zum Reagieren hat die ahnungslose Familie nicht mehr. IS Extremisten haben das Dorf längst umstellt und beginnen das Dorfzentrum zu stürmen. Hana und sechs ihrer Familienangehörigen werden festgenommen. Ihnen gelingt es, anders als über 350.000 Êzîden, nicht in die kurdischen Regionen oder auf das Gebirge zu flüchten.
Alle Frauen aus dem Dorf, die in die Hände der Terroristen geraten sind, werden selektiert: Nach Alter, Ehestatus und Schönheit. Besonders auf junge, unverheiratete und jungfräuliche Mädchen haben es die Terroristen abgesehen. Darunter auch viel Minderjährige. Auch Hana muss sich mit mehreren Dutzend weiterer Frauen im Dorf aufstellen. Die selbsternannten Gotteskrieger beginnen damit alle Wertsachen und Mobiltelefone einzusammeln. Hana gelingt es dennoch, ihr Mobiltelefon in ihrer Socke zu verstecken.
Was mit ihren männlichen Angehörigen geschehen ist, weiß bis heute niemand. Vermutlich wurden sie, wie so viele, erschossen.
Die Frauen werden auf Pickups und kleinere LKWs verladen. Einige werden nach Tel Afar gebracht, westlich von Shingal, zum Militärflughafen der unter der Kontrolle des IS steht. Andere nach Baaj, im Süden von Shingal. In Tel Afar angekommen werden sie wie Waren erneut selektiert, in Gruppen aufgeteilt und wieder verladen. Tagelang wird auch Hana quer durch den Irak verschleppt, erst nach Mosul und von dort aus Richtung Bagdad, erinnert sie sich.
Zu Hanas Gruppe gehören etwa 15 weitere Frauen und Mädchen, die wie sie aus Shingal stammen. Sie werden zu einem Gebäude nahe dem bekannten Hotel in Bagdad „Findaq Rashid“ gebracht und dort eingesperrt. Von ihrem Gefängnis aus gelingt es ihr mit ihrem Mobiltelefon ihre Cousine in einem Flüchtlingslager in Kurdistan anzurufen, mit der unsere Redakteurin gesprochen hat.
Weinend und flüsternd schildert Hana am Telefon, was ihr und den anderen Mädchen in der Gefangenschaft nahe Bagdads widerfährt: „Sie stecken uns in Brautkleider und machen uns zu Bräuten der Terroristen. Nach drei Tagen kommen sie wieder, werfen die Frau zurück in den Raum und nehmen sich eine neue. Mit ihr machen sie dann dasselbe“. Mit „dasselbe“ meint Hana die brutalen Vergewaltigungen unzähliger Frauen und Mädchen.
„Wir versuchen uns irgendwie umzubringen, aber der Wächter im Gebäude verhindert es“, berichtet Hana weiter.
Über 3.000 weitere Êzîdînnen teilen Hanas Schicksal, Zahlen êzîdîscher Aktivisten gehen von über 4.000 aus. Daneben hunderte, die bereits außer Landes gebracht worden sind. Hinzukommen schiitische, turkmenische und christliche Frauen, die von den IS-Terroristen als „Kriegsbeute“ festgehalten werden. Rund 300 êzîdîsche Frauen wurden bereits nach Syrien verschleppt und dort auf Sklavenmärkten an Kaufwillige verkauft oder an Mitglieder der Terrororganisation verschenkt.
Obwohl die Aufenthaltsorte der meisten Frauen bekannt sind, wird nur wenig für ihre Befreiung unternommen. Hin und wieder gelingt es einigen ihre Angehörige zu kontaktieren. Vereinzelt drängen die Terroristen sie auch dazu, selbst anzurufen. Eine besonders perverse Form der psychologischen Kriegsführung. Die Angehörigen sollen mitanhören, wie ihre eigenen Ehefrauen und Töchter berichten, vergewaltigt worden zu sein. Ihr Wille soll gebrochen, die Hoffnung auf ein Widersehen zerstört und der Terror weiter gesät werden.
„Der IS hat nicht nur unsere Angehörigen sondern auch unsere Seelen ermordet“, erzählt ein Êzîdî dem Publizisten und Doktoranden der Universität von Chicago Matthew Barber.
Schwer traumatisiert gelingt wenigen Frauen die Flucht, andere können durch Luftschläge der US-Streitkräfte entkommen oder von bezahlten Kommandos befreit werden. Die Flucht einer 14 jährigen Êzîdîn machte vor wenigen Wochen weltweit Schlagzeigen. Auch sie wurde, wie Hana, in der Nähe Bagdads festgehalten.
„Sie haben uns getötet, unsere Häuser zerstört und uns gefangen genommen, daran können wir nichts mehr ändern. Aber ein größeres Leid ist, dass sie die Frauen und Mädchen selektiert, fortgebracht und vergewaltigt haben. Das kränkt uns zutiefst“, berichtet ein Familienvater und Augenzeuge.
Auf Hanas Hilfeersuchen folgen nur leere Versprechungen, denn so recht weiß niemand, was getan werden kann, um die Frauen aus der Sklaverei zu befreien. Um wenigstens den Kontakt halten zu können, lädt Hanas Cousine stetig Guthaben auf – denn alles hängt an diesem einen seidenen Faden. Ungewiss ist, wie sich das Schicksal für Hana und die anderen Mädchen und Frauen fügen wird.
êzîdîPress, 2. Okt. 2014