Midyat (Türkei) – Seit dem Ansturm der Terroristen des Islamischen Staat (IS) am 3. August 2014 auf das weltweite Hauptsiedlungsgebiet der Êzîden Shingal und den Angriffen im Norden des Iraks, befinden sich über 400.000 Êzîden auf der Flucht. Angehörige anderer ethnischer und religiöser Minderheiten wie die der Christen, Assyrer, Yarsan, Mandäer, schiitische Turkmenen, Shabak aber auch Sunniten, die sich nicht der IS-Doktrin beugen, sind ebenfalls im Irak als auch in Syrien vor den IS-Terroristen geflüchtet. In den meisten Fällen suchen die Flüchtlinge in Gebieten der Autonomen Region Kurdistan Schutz, welche den Andrang aber kaum noch bewältigen kann, trotz der aufopferungsvollen Bevölkerung, die die Menschen so gut es geht aus eigenen Mitteln versorgt. So versuchen tausende Flüchtlinge die Grenze zur Türkei zu überqueren. Rund 30.000 Êzîden halten sich derzeit in Flüchtlingscamps in der Türkei auf.
Viele Êzîden wollten nicht mehr in ihre Dörfer in Shingal zurückkehren, wo sie zusehen mussten, wie Angehörig hingerichtet worden sind. Die Mehrheit der Vertriebenen aber möchte endlich zurückkehren, stellt aber hierfür auch Forderungen. Eine êzîdîPress Korrespondentin hat mehrere dieser Camps besucht und mit den Flüchtlingen gesprochen.
Flüchtlingscamp in Cizre (kurd. Cizîr)
Im Flüchtlingslager Cizre halten sich derzeit über 2.500 Menschen auf. Verwaltet wird es von der kurdischen Partei BDP (heute HDP). Die Êzîden in diesem Camp zeigten sich sehr dankbar für die Hilfe der BDP, die sich mit größtmöglichem Einsatz um die Menschen kümmert. Immer wieder äußerten die Flüchtlinge ihren Dank auch für die Unterstützung durch die örtliche Bevölkerung.
Für ausreichend Nahrung und Wasser im Lager ist gesorgt, allerdings fehlt es vor allem an Medikamenten, Hygieneartikeln sowie an Kinder- und Frauenartikel, die dringend benötigt werden. Untergebracht sind die Flüchtlinge in Zelten. Trotz dem Mangel an allen möglichen materiellen Dingen, empfing man uns herzlich und bot uns Wasser, Tee und Sitzplätze an.
In den Gesprächen übten die Flüchtlinge heftige Kritik an den verantwortlichen Sicherheitskräften, den Peshmerga, in Shingal. Die Sicherheitskräfte habe ihnen die Waffen abgenommen und eine Bewaffnung in der Vergangenheit trotz der Bedrohungslage nicht gestattet, so ein Flüchtling. Man wolle aber wieder nach Shingal zurückkehren, jedoch nur unter gewissen Voraussetzungen. So sollen die Êzîden über eine eigene Verteidigungsmiliz verfügen und die arabische Bevölkerung aus Shingal verwiesen werden. Viele der arabischen Stämme in Shingal haben die IS-Terroristen bei dem Ansturm auf die Region unterstützt und teilweise selbst auf die schiitischen, êzîdîschen aber auch sunnitischen Flüchtlinge geschossen.
Zudem rufen sie alle Êzîden weltweit dazu auf, sich an der Befreiung Shingals zu beteiligen. „Wenn Shingal fällt, ist auch das Êzîdentum am Ende“, äußerte der êzîdîsche General Heydar Shesho noch vor wenigen Tagen.
Flüchtlingslager in Silopî (Provinz Şırnak)
Im Camp in Silopî sind rund 2.000 Flüchtlinge untergebracht. Hier hat man Zelte auf Grünflächen aufgestellt, dennoch müssen viele auf dem steinharten Boden schlafen. Viele haben nur einen dünnen Teppich, auf den sie sich zum Schlafen konnten. Ein LKW mit Hilfsgütern, von der BDP bereitgestellt, brachte viele Kissen und Decken zu den Flüchtlingen.
In den nächsten Tagen wird mit der Ankunft von rund 300 weiteren Flüchtlingen gerechnet. Auch die Mehrheit der Menschen in diesem Flüchtlingslager möchte wieder zurück in ihre Heimat Shingal, jedoch nur, wenn dort eine Schutzzone errichte wird und so für die Sicherheit der Menschen garantiert werden könne. Man wolle die eigene Heimat nicht den Feinden überlassen, über 150 junge Männer sind aus dem Camp daher bereits nach Shingal zurückgekehrt, um sich dort den Verteidigungskräften anzuschließen.
Die Campleitung warnte eindringlich vor dem anstehenden Winter. Viele werden den Winter, sosllte sich Unterbringung der Flüchtlinge nicht bessern, nicht überstehen können. Die Zelte bieten zu wenig Schutz vor der Kälte, notwendig sind befestigte Behausungen. Daher äußerte die BDP Campleitung den Wunsch, dass vor allem Sachspenden statt Geldspenden getätigt werden sollen.
Ein kleines Mädchen brach in Tränen aus und erzählte noch sichtlich unter Schock stehend von der Ermordung ihres Onkels. Die Terroristen richteten ihn vor ihren Augen hin.
Die Ankunft der Êzîden aus Europa und deren Hilfe gebe ihnen wieder etwas Kraft zurück, so die Flüchtlinge. Sie sind zutiefst dankbar für jegliche Hilfe, die sie erhalten.
Flüchtlingslager in Şırnak
In der Provinz Şırnak befinden sich insgesamt drei Flüchtlingslager, die ebenfalls von der BDP geleitet werden. In einem dieser drei Camps, die wir besuchten, befanden sich rund 2.200 Vertriebene aus Shingal.
Ein êzîdîscher Sheikh berichtet unter Tränen, wie arabische Bewohner seine Frau vor seinen Augen entführten. Er wünsche sich nichts sehnlicheres, als sie wiederzusehen. Er gebe aber nicht auf und müsse auch in dieser schweren Zeit Stärke beweisen. Man dürfe nicht wieder zulassen, dass erneut ein Völkermord an den Êzîden verübt wird und müsse daher zusammenhalten. Sein anwesender Sohn tröstete ihn und verdeutlichte erneut, dass die Êzîden nicht aufgeben werden.
Die Bewohner Şırnak sind außerordentlich gastfreundlich und helfen den êzîdîschen Flüchtlingen aufopferungsvoll. Viele teilen ihr eigenes Brot mit den Êzîden. Eine örtliche Bäckerei verteilt täglich rund 8.000 Brote an die Flüchtlinge, ohne dafür Entgelt zu verlangen. Schließlich sei man ein Volk.
Auch in diesem Camp warnte die BDP-Leitung vor dem anstehenden Winteranbruch. Außerdem müsse aufgrund der schlechten hygienischen Versorgung darauf geachtet werden, dass sich keine Epidemien ausbreiten.
Überbelegungen der Camps versucht man mit der Verlagerung der Flüchtlinge auf andere vorzubeugen. Derzeit werden auch verlassene, ehemalige êzîdîsche Dörfer weitestgehend saniert, um dort Flüchtlinge unterzubringen.
Jeder der Flüchtlinge im Camp äußerte den Wunsch, nach Shingal zurückkehren zu wollen, in die eigenen Häuser, in das eigene, selbstständige Leben zurück.
êzîdîPress, 7. Sept. 2014