Sinunê. Von irakischen Polizisten und Militär bewacht sind am Dienstag hunderte sunnitische Araber in die nordirakische Region Shingal eskortiert worden. Dort sollen sie sich, offenbar nach einer Anordnung der Zentralregierung in Bagdad, in dem Dorf Golat unmittelbar zu den êzîdîschen Dörfern im Osten niederlassen. Die Êzîden fürchten, dass sich unter den Rückkehrern auch Sympathisanten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) befinden und warnen vor drohenden Konflikten. Zuvor hatten jene ehemalige Nachbarn der Êzîden den IS maßgeblich bei Massakern und Entführungen gegen Êzîden unterstützt und sich der Terrormiliz angeschlossen. Den Antrag zur Rückkehr hatte unter anderem der Ninawa-Provinzrat gestellt, dessen kurdischer Vorsitzender Bashar Al-Kiki die Umsetzung begrüßte.
Ein Konvoi von rund 40 teils überladenden Fahrzeugen, darunter LKWs und Pickups, überquerte am Dienstag bewacht von der 92. Brigade der 15. Division den Checkpoint der irakischen Armee östlich des Shingal-Gebirges. Rund 200 Sunniten sollen sich nun in dem Dorf Golat niederlassen. Êzîdîsche Verantwortliche wie Khudeda Joki, Leiter des Bezirks Sinune im Norden der Shingal-Region, kritisierte, dass die Rückkehr weder mit der Bezirksleitung noch mit dem Gemeinderat abgesprochen wurde. Die aus Bagdad stammende Anordnung und die Rückkehr habe die Êzîden überrumpelt, so Joki.
Joki warnte, dass die Rückkehr von arabisch-sunnitischen Familien, deren Mittäterschaft bei Gräueltaten des IS gegen Êzîden bekannt sei, zu Unruhen führen werde. Die Êzîden seien verärgert, dass die irakische Armee ohne Abstimmung mit den Êzîden Tatsachen geschaffen habe.
Aus Bagdad heißt es, die rückkehrenden Familien seien einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden, um mögliche Verbindungen zum IS auszuschließen. Dies wird die Êzîden jedoch nicht beruhigen. Seit dem Völkermord kursieren hunderte Bilder ehemaliger sunnitischer Nachbarn innerhalb der Gemeinschaft, die die Mittäterschaft am Völkermord belegen und Verbindungen ganzer sunnitischer Stämme mit dem IS aufzeigen. Überlebende berichten immer wieder, wie sie von ehemaligen Nachbarn in Shingal verschleppt, vergewaltigt und misshandelt wurden.
Als die Terrormiliz IS am 3. August 2014 die Region überrennt, sind es vor allem die bis dahin friedlichen sunnitischen Nachbarn der Êzîden, die sich unmittelbar dem IS anschließen, ihnen die Häuser und Geschäfte der Êzîden zeigen, Êzîden identifizieren und selbst an Massenhinrichtungen teilnehmen. Als die êzîdîschen Zivilisten versuchen ins Gebirge zu flüchten, sind es ihre sunnitischen Nachbarn, die das Feuer auf sie eröffnen und dabei auch Kleinkinder töten.
Bei dem Massaker in Kocho etwa, bei dem über 600 Êzîden getötet und weitere 1.200 Frauen und Kinder verschleppt und versklavt wurden, führte das Kommando über die IS-Schergen der aus Shingal stammende Sunnit Abu Hamza al-Khatuni. Die wenigen Überlebenden des Massakers berichteten, wie ihre ehemaligen Nachbarn die in Gräben liegenden Êzîden mit Maschinengewehren beschossen.
Zeitzeugen berichten, dass die sunnitischen Bewohner des Dorfes Golat bewaffnet am 3. August 2014 zusammen mit dem IS in den Norden und Süden der Region gestürmt seien und die Dörfer der Êzîden überfallen hätten. Mehrere Massengräber mit êzîdîschen Opfer der IS-Terrormiliz sind in Golat und Umgebung aufgedeckt worden.
Aber auch Schiiten und teils Sunniten haben unter dem Terror des IS in Shingal gelitten und wurden entweder getötet oder aus ihren Häusern vertrieben. In einer politisch angespannten und militarisierten Region wird die Differenzierung von sunnitischen Opfern und Tätern sich jedoch als schwierig erweisen. Von einer Aufarbeitung der Ereignisse ist die Region weit entfernt. Erst jetzt werden in Shingal die Verbrechen des IS von der internationalen Staatengemeinschaft dokumentiert, während der Völkermord an den Êzîden weiter anhält.
Auch nach über vier Jahren befinden sich schätzungsweise rund 2.000 ÊzîdInnen in Gefangenschaft des IS. Hunderttausende Êzîden leben bis heute als Binnenflüchtlinge in Lagern im kurdischen Nordirak. Zehntausende haben das Land bereits verlassen. Eine Rückkehr der êzîdîschen Flüchtlinge wird mit einer Ansiedlung arabischer Familien in Shingal noch unwahrscheinlicher. Zu schwer ist das Vertrauen in die ehemaligen Nachbarn erschüttert, die Angst vor erneuten Übergriffen und Konflikten groß und die Fähigkeit zur Differenzierung von den begangenen und bis heute anhaltenden Gräueltaten gelähmt.
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