Shingal. Dutzende Zivilisten luden in Panik ihr einfachstes Hab und Gut auf Pickups und in PKWs. Eilig flüchteten sie Richtung Shingal-Gebirge, wo sie sich in Sicherheit brachten. Diese Szenen stammen nicht vom 3. August 2014, als die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) einen Völkermord an den Êzîden in der nordirakischen Region Shingal verübte. Vorgestern flüchteten die Êzîden vor Kämpfen zwischen den Peschmerga der Autonomen Region Kurdistan und êzîdîschen Widerstandskämpfern. Kämpfe, die so heftig waren, dass auf êzîdîscher Seite mindestens fünf getötet und weitere Dutzende verletzt wurden – mehr als in den allermeisten Gefechten mit der Terrormiliz IS in der Region. Êzîden, die mit deutschen Waffen erschossen wurden. Waffen, mit denen die Peschmerga eigentlich die Êzîden verteidigen sollten. Die Peschmerga gaben bekannt, keine Verluste erlitten zu haben.
Um die Präsenz der rivalisierenden PKK-Partei in der Shingal-Region zu beenden, versuchte die Partei des amtierenden kurdischen Präsidenten Massud Barsani, die Demokratische Partei Kurdistans (kurd. PDK), zunächst mithilfe bewaffneter êzîdîscher Loyalisten die PKK aus Shingal zu vertreiben. Da jedoch die Mehrzahl der Kämpfer der PKK in Shingal êzîdîsche Freiwillige sind, die innerhalb der Reihen der Widerstandseinheit Shingals (YBŞ) seit 2014 gegen den IS kämpfen, weigerten sich die êzîdîschen Peschmerga, mit Waffengewalt gegen die PKK vorzugehen. Es blieb zunächst bei verbalen Attacken, die in den vergangenen Monaten zunahmen. Schließlich entsandte die kurdische PDK-Regierung, auch unter dem Druck der Türkei, sogenannte „Rojava-Peschmerga“ nach Shingal, die sich aus syrischen Kurden muslimischen Glaubens zusammensetzen, welche aus Syrien flüchteten und mit der PKK verfeindet sind. Diese Einheit ist dafür bekannt, ohne Skrupel auch gewaltsam gegen êzîdîsche Widerstandskämpfer und Zivilisten vorzugehen.
Am vergangenen Freitag wurden die Rojava-Peshmerga dann nach Khanasor beordert, eine Kleinstadt im Norden Shingals. Die Stadt wurde nach dem Einmarsch des IS von YBŞ- und PKK-Kämpfern befreit und war seitdem von ihnen verwaltet worden. Anders als die aus Deutschland mit Waffen belieferten Peschmerga, kämpften die YBŞ- und PKK-Einheiten in Shingal öfter und länger gegen den IS und töteten dabei auch wesentlich mehr Terroristen. Khanasor wurde von YBŞ-Kämpfern befreit. Der gesamte östliche Teil der Shingal-Region wurde alleine von YBŞ- und PKK-Kämpfern, phasenweise auch mit Hilfe der kurdisch-syrischen YPG, zurückerobert. Der versuchte Einmarsch der Rojava-Peschmerga nach Khanasor stellte eine klare Provokation dar, die sich – unabhängig vom politischen Machtkampf zwischen der PDK und der PKK – vor allem die Êzîden der YBŞ nicht gefallen lassen wollten. Schließlich waren es die Peschmerga, die den Völkermord an den Êzîden erst ermöglichten. Viele der YBŞ-Mitglieder stammen aus dem Süden der Shingal-Region, wo die IS-Terrorgruppe die meisten Massaker verübte und abertausende êzîdîsche Frauen und Kinder verschleppte. Entsprechend groß ist die Verachtung der YBŞ-Kämpfer gegenüber den PDK-Milizen der Peschmerga, die kampflos aus Shingal flüchteten und die êzîdîschen Zivilisten dem IS auslieferten.
YBŞ- und PKK-Einheiten stellten sich dem Konvoi der Rojava-Peschmerga entgegen und zwangen ihn zum Stopp. Beide Seiten begaben sich in Gefechtsstellung. Nachdem ein Streit ausbrach, wurde schließlich das Feuer eröffnet. Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, für die Eskalation verantwortlich zu sein. Bereits in der Vergangenheit haben die Rojava-Peschmerga in Shingal unschuldige êzîdische Zivilisten getötet, zum Beispiel den Êzîden Said Khudeda Qasim, der aus dem Flüchtlingscamp nach Shingal in sein Heimatdorf in Shingal fuhr, um nach Baumaterialien für den Ausbau einer Gartenanlage zu suchen. Dabei wurde er von Rojava-Peshmerga erschossen.
Als Folge des Vormarsches der Rojava-Peshmerga kam es in Khanasor zu schweren Gefechten. Die Peschmerga setzten unter anderem die aus Deutschland gelieferten Waffen ein und töteten mindestens fünf Êzîden. Waffen, die die Bundesregierung an die Peschmerga lieferte, damit diese die Êzîden verteidigen, wie der Bruch mit der bis dahin geltenden deutschen Doktrin, keine Waffen in Krisenregionen zu liefern, begründet wurde. Nun wurden dieselben Waffen, wie von nicht wenigen befürchtet und vorausgesehen, gegen die Êzîden selbst gerichtet.
Auf Aufnahmen der PDK-nahen Nachrichtenagentur Rudaw sind eindeutig deutsche Waffen zu erkennen, die die Peschmerga in Khanasor einsetzten und damit Êzîden töteten. Auch gepanzerte deutsche Fahrzeuge des Typs Dingo kamen bei ihrem versuchten Einmarsch in Khanasor zum Einsatz. Es handelt sich dabei um Waffen der folgenden Typen:
Das G36. Im August 2014 beschloss die deutsche Bundesregierung, 8.000 G36-Gewehre an die Peschmerga im Nordirak zu liefern. Die Lieferung weiterer 4.000 G36 wurde 2015 beschlossen. Alle Waffen sowie Ausrüstung und Fahrzeuge wurden ausschließlich an die Peschmerga geliefert. Nur eine vergleichbar geringe Zahl dieser Waffen gelangte in die Hände der êzîdîschen Peschmerga. Keine Waffen haben hingegen die Kämpfer der YBŞ und PKK erhalten, die jahrelang wichtige Frontlinien verteidigt hatten. Die êzîdîschen Kämpfer der YBŞ wurden zunächst ausschließlich von der PKK bewaffnet und ausgebildet. Dennoch waren die PKK- und YBŞ-Einheiten beim Kampf gegen den IS in Shingal wesentlich effektiver. Während die Peschmerga auch auf Luftunterstützung der Anti-IS-Koalition vertrauen durften, waren die PKK- und YBŞ-Kämpfer auf sich allein gestellt. So stellten sich die Êzîden sowie die PKK fast zwei Jahre lang mit leichten Waffen einem erbitterten Häuserkampf in der gleichnamigen Stadt Shingal, während die Peschmerga mit den deutschen Waffen tatenlos zusahen, wie aus einem Bericht der ARD-Sendung Monitor hervorgeht.
Bei den Gefechten in Khanasor setzten die Peschmerga das G36 gegen die Êzîden ein. Auf Aufnahmen ist das G36 etwa bei einem der Peschmerga in Khanasor zu sehen. Während es sich bei den Rojava-Peschmerga um nicht-irakische Staatsangehörige handelt, sondern um syrische Flüchtlinge, ist die YBŞ eine offiziell vom irakischen Zentralstaat anerkannte Miliz, die aus Êzîden aus der Shingal-Region besteht.
Zudem ist Khanasor offiziell Teil des irakischen Staates. Seine umstrittene Zugehörigkeit wurde (noch) nicht gemäß Artikel 140 der irakischen Verfassung per Volksentscheid beschlossen und gehört daher solange zum Zentralstaat. Die aus Syrern bestehende Peschmerga-Einheit wurden hier also rechtswidrig gegen eine staatlich anerkannte êzîdîsche Miliz auf irakischem Staatsterritorium eingesetzt. Die kurdische Regierung versucht dennoch die YBŞ als eine „illegale Miliz“ darzustellen, um ihr Vorgehen zu legitimieren.
Das G3. Das Sturmgewehr vom Typ G3 aus Deutschland kam ebenfalls in Khanasor gegen die Êzîden zum Einsatz. Im Jahr 2014 wurden 8.000 G3 an die Peschmerga geliefert, weitere 4.000 im Jahr 2015. Auch innerhalb der Rojava-Peschmerga kommt das G3 zum Einsatz.
Das MG3. Das Maschinengewehr aus Deutschland wurde von Peschmerga-Kämpfern in Khanasor gegen die Êzîden eingesetzt. 40 MG3 wurden im Jahr 2014 an die Peschmerga geliefert, zehn weitere im Februar 2015.
Bei dem versuchten Einmarsch der Peschmerga in Khanasor setzten die Peschmerga einen aus Deutschland stammenden Dingo 1 ein. Das gepanzerte Fahrzeug wird kurzzeitig von zwei PKK-Kämpfern aufgehalten, wie in einem Video zu sehen ist, das von PKK-Medien veröffentlicht wurde. Kurz darauf werden beide PKK-Kämpfer erschossen.
Mithilfe der deutschen Waffen wurden nicht nur êzîdîsche Kämpfer getötet, sondern auch fünf weitere YBŞ-Êzîden gefangen genommen und später öffentlich durch ihre Zurschaustellung vorgeführt und gedemütigt. Êzîdîsche Widerstandskämpfer, die seit 2014 erbittert gegen den IS gekämpft und oft zahlreiche ihrer Angehörigen im Völkermord verloren haben.
Die Waffenlieferungen an die Peschmerga wurden unter anderem auch von einigen êzîdîschen Vertretern, mehrheitlich PDK-nahe Lobbyisten, in Deutschland gefordert und befürwortet. Dieselben Vertreter sind nun stumm, wenn Êzîden nun mit diesen Waffen getötet werden. Anderer Meinung waren die PKK-nahen êzîdîschen Vereine, die strikt gegen derartige Waffenlieferungen waren. Mit den deutschen Waffen versucht die PDK-Partei nun im innerkurdischen Konflikt ihre Machtansprüche durchzusetzen – dabei schreckt man nicht davor zurück, Eziden zu töten. Damit verfehlen die Waffenlieferungen jedoch ihren Zweck. Die Bundesregierung hat jetzt die Pflicht, hier einzuschreiten. In Shingal wurden die getöteten Êzîden heute beigesetzt.
© ÊzîdîPress, 05. März 2017