Shingal. Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan (ARK) im Nordirak erhöhnt den Druck gegen die Êzîden. In der Nacht von Samstag auf Sonntag teilte sie den Êzîden in der nordirakischen Region Shingal mit, man werde alle Gehälter einfrieren, sollten sie nicht ihre Heimat Shingal verlassen und in die kurdischen Regionen gehen. Den Empfängern, darunter sowohl in Shingal verbliebene êzîdîsche Peshmerga als auch zivile Beamte sowie NGOs, droht damit eine humanitäre Krise.
Adlaj Kejjan, êzîdîsche Menschenrechtsaktivistin und Direktorin der Yezidi American Women Organization aus den USA, die immer wieder Flüchtlinge in Shingal betreut, sieht darin eine bewusste politische Inkaufnahme einer humanitären Krise, um die Êzîden einer politischen Agenda zu unterwerfen. „Dieser Schritt wird zu einer weiteren humanitären Verwüstung der ohnehin leidenden Êzîden führen, die nichts in der Hand haben, um einen Neubeginn zu wagen“. Viele der in Shingal lebenden Êzîden, deren Gehälter aus Bagdad über die ARK gezahlt werden, stehen vor dem völligen Ruin, sollte die ARK ihre Drohungen in die Tat umsetzen. „Von dem Gehalt eines einzelnen leben ganze Familien, für die ein weiteres Überleben in der Shingal-Region so undenkbar wird“.
Die êzîdîschen PDK-Peshmerga und Angestellten sind davon am stärksten betroffen und wurden gestern Abend telefonisch über die geplante Maßnahme informiert. Die meisten Êzîden traten den PDK-Peshmerga bei, um mit dem Gehalt den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. „Es gab sonst so gut wie keine andere Arbeit. Viele dieser êzîdîschen Peshmerga sind Alleinverdiener und für ihre Kinder, jüngere Geschwister und Eltern mitverantwortlich. Wenn sie ihr Gehalt verlieren, bedeutet das schlicht, dass sie sich kein Mehl zum Brot backen leisten können, kein Brennöl, um sich für den kommenden Winter zu wärmen, keine simplen Generatoren, um Wasser aus Brunnen zu pumpen oder für Medikamente“, fügt Kejjan hinzu.
„Die PDK zwingt und missbraucht die êzîdîschen Genozid-Überlebenden zur politischen Unterwerfung, indem sie kontrolliert, wo ihre nächste Mahlzeit herkommt“, so Kejjan. Der vom IS verübte Völkermord dauere fort. Aufgrund der politischen Instabilität im Irak sei eine Rückkehr in den Alltag jedoch bisher unmöglich.
In Shingal waren bis zur erneuten Flucht der Peshmerga zehn internationale NGOs aktiv, die unter anderem die Zivilisten im Gebirge versorgten. Zwei Tage vor der Flucht der Peshmerga seien alle zehn NGOs in die Region Kurdistan zurückgekehrt. Eine Rückkehr dieser NGOs scheint unwahrscheinlich, da diese in Erbil registriert sind und die Genehmigung der PDK erforderlich wäre. Erst eine Neuregistrierung in Bagdad könnte ein Rückkehr ermöglichen. Dann aber droht diesen NGOs, die auch êzîdîsche Flüchtlinge in der ARK versorgen, die Verbannung aus den kurdischen Regionen.
Am 17. Oktober dieses Jahres übernahmen zunächst schiitische Milizen die Kontrolle über die bis dahin von der ARK verwalteten Region Shingal. Die Peshmerga sowie die politischen Verantwortlichen, darunter sowohl der von der PDK-Partei ernannte Bürgermeister der Stadt Shingal als auch hohe Funktionäre, flüchteten widerstandslos aus Shingal. Anschließend übernahmen irakische Streitkräfte sowie êzîdîsche Einheiten die Kontrolle über die Region.