Shingal. Immer dann, wenn die Minderheit der Êzîden im Fokus der internationalen Öffentlichkeit steht und sich die Headlines namhafter Nachrichtenagenturen mit ihrem Namen überschlagen, verheißt es für die Minderheit im Irak nichts Gutes. Die relativ unbekannte, kleine Religionsgemeinschaft wird im Irak seit 2003 vermehrt Ziel von Terrorakten, die vor allem eines zeigen: puren Hass. Hass auf eine im Nahen Osten politisch unbedeutende Gruppe, die als Ventil für fanatische, islamistische Extremisten dient.
Die Êzîden haben im Irak weder vor noch nach 2003 überhaupt irgendein politisches Gewicht, beteiligen sich als Nicht-Muslime weder an dem blutigen Konfessionskrieg noch erheben sie Anspruch auf politische oder militärische Führungspositionen. Sukzessiv werden sie marginalisiert und müssen stattdessen um grundlegendste Rechte kämpfen. Und dennoch sorgten sie am 14. August 2007 wieder in der Weltöffentlichkeit für Schlagzeilen, als Extremisten des Terrornetzwerkes Al-Kaida den zweitblutigsten Terroranschlag der Geschichte nach dem 11. September verüben.
In Shingal, dem Hauptsiedlungsgebiet der Êzîden im Nordosten des Iraks, kommt es bereits Wochen vor dem Terroranschlag fast täglich zu Übergriffen. Selbstmordanschläge, am Straßenrand platzierte Bomben, religiös motivierte Morde, Beschlagnahmungen von hunderten Sprengfallen, Maschinengewehren, Handgranaten und kleinere Pistolen, alles von US-Soldaten in Tal Afar und Shingal dokumentiert. Die auf Wikileaks veröffentlichten, vertraulichen Depeschen lesen sich wie Vorboten einer großen Katastrophe.
Nachdem die USA im Jahr 2003 in den Irak einmarschierten und die Saddam-Diktatur stürzten, erhofften sich vor allem die Angehörigen der Minderheiten viel vom versprochenen „neuen Irak“. Die euphorische Stimmung währt nicht lange und kippte schließlich, als die zunächst als Befreier gefeierten GI´s immer mehr als Besatzer wahrgenommen werden. Zwar fand die Diktatur unter Saddam ihr Ende, was dann aber folgte sollte noch verheerender werden. Weder die US-Verantwortlichen im Irak noch die irakischen Politiker zeigten ein ernsthaftes Interesse daran, das Land zu stabilisieren – trotz der Warnungen der Militärs. Und so wurde ein blutiger Konfessionskrieg zwischen Sunniten und Schiiten entfesselt, den Saddam über Jahrzehnte hinweg geschürt hatte. Die Schiiten sehnen nach Rache, die in den Untergrund getriebenen Baathisten – sunnitische Generäle, Soldaten, einfache Staatsbedienstete, Stammesfürsten – formieren sich und bereiten ihre Rückkehr an die Macht vor. Terrororganisationen wie Al-Kaida erkannten ihre Chance das Machtvakuum für sich zu nutzen und verübten einen Anschlag nach dem anderen. Mitten im Kreuzfeuer des Bürgerkrieges stehen dabei die Minderheiten im Irak – Christen, Schakab, Yarsan, Êzîden.
Im August 2007 bereiten Al-Kaida-Terroristen den größten Terrorakt nach dem 11. September vor. Gegen eine wehrlose Minderheit, deren einziges Vergehen ihre religiöse Zugehörigkeit ist. Und wieder sind es zwei der ärmsten Gemeinden, Siba und Til Ezer (Qataniya), die es trifft. Vier Fahrzeuge – zwei große LKW, ein PKW und ein kleiner Lastwagen – steuern mit Sprengstoff vollbeladen auf die südlichen Gemeinden in Shingal zu, die die Grenze zu den arabischen Dörfern in Baaj bilden. Getarnt als Hilfsgüterlieferung passieren die zwei LKW die Gemeinde Siba Sheikh Khidir, während sich die beiden weiteren Autobomben in der Gemeinde Til Ezer in Stellung begeben.
Für die Sicherheit sollen irakische Streitkräfte sorgen, die die vermeintlichen Hilfsgütertransporte jedoch nicht kontrollieren und so das Massaker nicht verhindern. Als die Menschen sich um die LKWs in Siba versammelt haben, zünden die Selbstmordattentäter ihre Bomben simultan. Auch in Til Ezer sprengen sich die Al-Kaida Terroristen zur selben Zeit in die Luft. Eine gewaltige Explosion zerstört bis zu 300 Häuser und beschädigt weitere rund 400, wie aus den Depeschens der US-Soldaten hervorgeht. US-Einheiten stellen als erste am Tatort 344 Tote und 702 Verletzte fest. Während in den Krankenhäusern die Vorräte ausgehen, steigt die Opferzahl immer weiter.
Das irakische Rote-Kreuz berichtet letztlich von 796 getöteten und 1.562 verletzten Êzîden. Tausende weitere Menschen sind obdachlos. Beide Dörfer wurden nahezu dem Erdboden gleichgemacht. US-Obergeneral Benjamin Mixon erklärt gegenüber der CNN: „Dies ist ein Akt der ethnischen Säuberung, wenn man will, fast ein Völkermord“.
Noch Tage später sind dutzende Opfer unter den zerstörten Häusern begraben. Täglich bergen die Rettungsteams zerfetzte Leichen aus den Trümmern, sammeln verstreute Körperteile auf. Viele verbrannten bei lebendigem Leib, wie Überlebende berichteten. In den Wochen danach machen us-amerikanische und britische Einheiten Jagd auf die Hintermänner des Anschlages. Am 3. September wird der Drahtzieher, Abu Mohammed al-Afri, hochraniges Mitglied Al-Kaida, der auch als Abu Jassem bekannt ist, bei einem Luftschlag im Nordwesten Mosuls getötet.
Sieben Jahre später sollten Siba Sheikh Khidir und Til Ezer erneut in den Schlagzeilen stehen. Dann, als die Terrormiliz „Islamischer Staat“ in der Nacht vom 3. August mit dem Vernichtungsfeldzug gegen die Êzîden beginnt, über 10.000 Êzîden ermordet oder versklavt, hunderttausende zur Flucht zwingt. Ein Völkermord, der sich lange angekündigt hatte in einem zerfallenden Staat, in dem der Hass regiert.
© Ê