Duhok. Die Vorfreude war groß, als der kurdische Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Hussein Hassan ankündigte, bei den 4. Internationalen Filmfestspielen in Duhok erstmals einen Film über den Genozid an den Êzîden zu zeigen. Doch kurz darauf droht der Film zu einem Politikum zu werden.
Mehrere ÊP-Korrespondenten durften den Film bei der Premierenaufführung in Duhok mitansehen. Der Film „Reşeba“, zu Deutsch „der schwarze Wind“, thematisiert die Liebesgeschichte des êzîdîschen Paares Reko und Pero, das während des Völkermordes durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ in Shingal auseinandergerissen wird. Nachdem Pero vom IS als Sexsklavin gefangen genommen wird, gelingt es ihrem Verlobten nach einem Kampf ihre Befreiung zu organisieren. In Freiheit sieht sich Pero jedoch mit neuen Problemen konfrontiert: „Doch Peros Trauma sitzt tief und die traditionelle ezidische Gemeinschaft hat Schwierigkeiten das Schicksal der jungen Frau zu akzeptieren“, heißt es in der Filmbeschreibung.
In einer Szene am Ende des Trailers richtet der Vater von Pero schließlich eine Waffe auf seine eigene Tochter. Rekos Vater beschimpft Pero zuvor als „unrein“ und bezeichnet sie als eine „Schande“, weswegen Reko sich daher von ihr trennen solle. Wenige Szenen, die für viele Aufschluss über die Intention des Filmes geben. Der Regisseur gibt an, die Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit – was er wenig später allerdings revidieren wird.
Bei der Eröffnung des Filmfestivals in Duhok folgte dann schließlich ein Sturm der Entrüstung innerhalb der êzîdîschen Gesellschaft, als zwei Dutzend Êzîden während der Filmvorführung in der Vorhalle Protest einlegten. Andere, vor allem êzîdîsche Frauen, boykottierten die Eröffnungsfeier. Demonstrativ veröffentlichten ÊzîdÎnnen daraufhin auf verschiedenen sozialen Netzwerken Hochzeitsfotos von aus IS-Gefangenschaft befreiten Êzîdînnen, so etwa auch Viyan und Ali, denen ein ähnliches Schicksal wie das der Protagonisten widerfuhr und heute verheiratet sind. Vehement widersprachen die Êzîden dem Narrativ des Filmes, welcher suggeriere, dass es sich beim Verhalten des Vaters von Pero um eine êzîdîsche Konvention handele.
Bereits kurz nach dem IS-Überfall auf Shingal erklärte der Religiöse Rat der Êzîden, dass alle vom IS entführten und vergewaltigten êzîdîschen Frauen und Kinder weiterhin vollwertige Mitglieder der êzîdîschen Gemeinschaft seien. Bavê Chawish, höchster Tempelwächter und einer der bedeutendsten ezidischen Geistlichen, betonte wiederholt, dass jene Frauen Helden seien, die für ihre êzîdîsche Identität durch die Hölle gingen. Den Frauen und Mädchen drohe, so die Deutung des Films, ohnehin der Tod, wenn sie aus der IS-Gefangenschaft entfliehen können. Damit nimmt er jegliche Hoffnung der noch in Gefangenschaft ausharrenden êzîdîschen Frauen und Kinder und spielt in die Hände der IS-Terroristen.
Der Bave Sheikh, religiöses Oberhaupt der Êzîden, hat bereits hunderte aus IS-Gefangenschaft befreite Êzîdînnen empfangen und ihnen und ihren Familien von Angesicht zu Angesicht vermittelt, dass sie weiterhin zu dieser Gemeinschaft gehören. Nicht nur, um den Frauen eine psychische Last zu nehmen, sondern auch um ihnen symbolisch zu zeigen, dass die an ihnen begangenen Vergewaltigungen nicht bedeuten, vom IS islamisiert worden zu sein. Der Religiöse Rat der Êzîden äußerte sich in dieser Thematik mehrfach unmissverständlich, dem eine große Welle der Solidarität aus der êzîdîschen Gemeinschaft folgte.
Diese humane Geste des Religiösen Rates wurde auch von UN-Vertretern gewürdigt. Jacqueline Parlevliet, UNHCR-Schutzbeauftragte in Erbil, sagte diesbezüglich: „Wir haben einen ausdrücklichen Ruf der yezidischen Führung zur Unterstützung dieser befreiten und entkommenen Frauen und Mädchen gesehen, und das ist ein sehr wertvoller Beitrag“.
Die Krisenbeauftragte von Amnesty International, Donatella Rovera, die monatelang entführte êzîdîsche Frauen und Mädchen betreute, bezeichnete das Verhalten des Religiösen Rates der Êzîden als „beispiellos“.
Die êzîdîsche Politikerin Vian Dakhil (PDK), der êzîdîsche Aktivist Abu Shujaa, welcher mehrere hundert Frauen und Kinder aus IS-Gefängnissen befreit hat, der Religiöse Rat der Êzîden sowie das Büro für êzîdîsche Angelegenheiten weisen die Darstellungen des Filmes zurück. Ebenso die Gesellschaft Ezidischer Akademikerinnen e.V. aus Deutschland.
Aber auch nicht-êzîdîsche Aktivisten wie Falah Muradkhan Shakam, kurdischer Aktivist, der unter anderem für die in Deutschland ansässige Hilfsorganisation Wadi e.V. arbeitet und Dutzende befreite ÊzîdÎnnen betreut hat, gehören zu den Kritikern dieses Filmes. Shakam bezeichnete die darin dargestellten Szenen als unzutreffend. Der Film verunglimpfe die êzîdîsche Gesellschaft zu Unrecht. Der renommierte irakische Schriftsteller Saad Salloum meldete sich ebenfalls zu Wort und kritisierte die im Film voreingenommene Darstellung. Salloum lobte zudem das Verhalten der êzîdîschen Verantwortlichen und der êzîdîschen Gesellschaft gegenüber den befreiten Frauen.
Ein derartiger Film lebt allerdings gerade von der Dramaturgie, von starken Kontrasten und teils überzogener Schauspielerei. Selbst dann, wenn er sich auf einer wahren Begebenheit beruft. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine biografische Darbietung wie in der US-Serie Narcos, die vom Aufstieg und Fall des Drogenbarons Pablo Escobar erzählt. Der Film handelt von einem Völkermord.
Der Regisseur arbeitet mit diesem Film daher auf einem hochsensiblen Feld, auf dem er wenig Feingefühl zeigt. Das liegt nicht zuletzt auch am gewählten Zeitpunkt und der Behauptung, die in dem Film dargestellten Szenen beruhten auf einer wahren Begebenheit. Der Genozid dauert weiter an, etwa 3.800 Êzîden, überwiegend Frauen und Kinder, befinden sich weiterhin in Gefangenschaft des IS. Während Familien sehnsüchtig darauf hoffen, ihre Liebsten irgendwann wieder in die Arme zu nehmen, sticht Reşeba mitten in ihre Hoffnung und erklärt sie zu archaischen Objekten, die Töchter und Mütter verstoßen.
Zwar hat der Regisseur mithilfe des êzîdîschen Geistlichen Peshimam Numan im Film deutlich dargestellt, dass der Religiöse Rat alle befreiten Frauen und Mädchen weiterhin als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft empfängt, hat den Rat und alle anderen Êzîden aber über den Ausgang des Filmes – und damit über den Kern – offenbar bewusst im Unklaren gelassen. Bis zum Trailer. Den Mitgliedern des Religiösen Rates in Lalish erzählte er zunächst von seinem Vorhaben. Mitglieder des Rates erteilten ihm daraufhin ihre Drehgenehmigung und partizipierten teilweise sogar selbst an den Dreharbeiten. Dem Rat wurde allerdings vorenthalten, wie der Film enden würde. Der höchste Tempelwächter Bavê Chawîsh, welcher den Film zunächst sehr begrüßte, fühlt sich hintergangen. In einem Video-Statement erklärt er: „Das, was der Regisseur uns, dem Mîr (weltlichen Oberhaupt) und allen anderen Êzîden mitteilte, stimmt nicht mit dem überein, was im Film letztlich gezeigt wurde. Man hat uns betrogen.“
Nach der Veröffentlichung des Trailers sprach der renommierte êzîdîsche Universitätsdozent und Aktivist Khidir Domle mit dem Regisseur und verlangte nach einer Stellungnahme. Der Regisseur gestand, dass ihm persönlich ein solcher Fall wie der seiner Protagonisten Reko und Pero nicht bekannt sei, weshalb er Korrekturmaßnahmen am Film vornähme. Trotz dieser Absprache, von der ÊzîdîPress eine Aufzeichnung vorliegt, ließ der Regisseur den Film unbearbeitet vorzeigen.
Nach zunehmender Kritik suchte auch das Büro für êzîdîsche Angelegenheiten unter dem Vorsitz von Sheikh Shamo (PDK) ein klärendes Gespräch mit dem Regisseur. Vorab wurde bei dem Treffen der Film vorgeführt. Die Êzîden baten den Regisseur anschließend um Korrektur, der wiederum versprach, die fiktiven Darstellungen im Film entsprechend zu korrigieren. Wenig später zeigte der Regisseur den Film auf dem Duhok IFF unbearbeitet. Sheikh Shamos Büro sprach von einem Doppelspiel des Regisseurs.
Die Kritik richte sich gegen den Film, nicht gegen den Regisseur, der in der Vergangenheit bereits ähnliche, positive Videos für Musiker mit Bezug zu den Êzîden produziert habe, sagte der êzîdîsche Schriftsteller Saad Misto. Auch wolle man nicht die Kunstfreiheit in Frage stellen, sagte Misto gegenüber dem kurdischen Nachrichtenmedium Rudaw, einem der Sponsoren des Duhok IFF. Die Êzîden hätten allerdings das Recht, einen Film zu beurteilen, der sie zum Thema mache.
Zahlreiche êzîdîsche Juristen im Nordirak erwägen derweil eine Anzeige gegen den Film, da dieser die êzîdîsche Gesellschaft diffamiere.
Letztendlich romantisiert und nutzt Reşeba ein traumatisches Ereignis aus, indem eine fiktive Darstellung zur Wahrheit erhoben und damit in die verwundete Seele der Êzîden gestochen wird. Reşeba ist ein verletzender, arroganter Film, der dem Zweck, sich selbst zu vermarkten, mehr Priorität beimisst als seinem Anspruch auf Authentizität gerecht zu werden. Er entwürdigt das humanistische Verhalten der êzîdîschen Geistlichen und Gesellschaft, die diese Frauen entgegen aller Konventionen und archaischen Einflüsse im Nahen Osten zu Helden erklärt haben. Zurecht empfinden die Êzîden diesen Film daher als eine Beleidigung.
Nach diversen Protesten wurde die Filmvorführung zumindest in der kurdischen Region im Irak auf unbestimmte Zeit gestoppt. Für den Regisseur Hassan kündigt sich jedoch schon weiterer Ärger an: In seinem Film wird während eines IS-Sklavenhandels offenbar ein Araber in typisch schiitischem Auftreten gezeigt, welcher die Auktion von Sexsklavinnen organisiert. Die Schiiten, von den IS-Terroristen als Abtrünnige bezeichnet und bekämpft, kündigten Protest an.
© ÊzîdîPress, 12. September 2016