Qewl-Fälschungen

Der verzweifelte und missglückte Versuch einer politischen Rechtfertigung

153 sakrale Texte, 455 Seiten[1], die ca. 78.000 Wörter umfassen. Die Zahlen beschränkten sich auf mein eigenes Archiv. Hinzu kommen ebenso viele mündlichen Überlieferungen, die die sakralen Texte erörtern. Egal ob wir nun einen Qewl, ein Beyt, ein Qasîd, ein Dûa oder ein Jandil betrachten: in keinem einzigen dieser 153 sakralen Texte, auf keiner einzigen dieser 455 Seiten, mit keinem einzigen der über 78.000 Wörter, in keiner einzigen mündlichen Überlieferung, in keinem Qewl, Beyt, Qasîd, Dûa oder Jandil kommt der Name Zarathustra (kurd. Zerdeşt) vor. Dann tauchen angebliche „heilige Überlieferungen“ der êzîdîschen Religion wie von Geisterhand auf, die sich mit Nichts anderem, als der Person Zarathustra und der Legitimation einer bestimmten kurdischen Politik befassen. Die Tatsache, dass sich in diesen Texten Widersprüche zur êzîdîschen Lehren wie Maden im Müll drängeln und nachweislich historisch wie wissenschaftlich falsche Angaben beinhalten, sei zunächst unwichtig.

Viel wichtiger ist, woher diese Texte samt merkwürdigem Inhalt stammen. Die Suche wird dank dem Dilettantismus, die diese Texte zu erkennen geben, vereinfacht. Sie führt uns zur kurdischen Politik, die seit Jahrzehnten verzweifelt versucht, aus den Êzîden Zarathustrier zu machen. Aber wieso? Wieso sollen die Êzîden, jene die die kurdische Sprache und Religion zu oft mit ihrem Leben beschützt haben, etwas sein, was sie nicht sind? Und viel wichtiger, wieso glauben es so viele Êzîden?

Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, weil die Intention jener Politik im Grunde berechtigt ist. Die Art und Weise, die Methode, ist es nicht. Sie versuchen eine Konvention zu schaffen, auf die sich die Mehrheit der kurdischen Gesellschaft berufen kann. Und dies ohne jegliche Zugeständnisse an eine bestimmte Gruppe machen zu müssen. Die Mehrheit der Kurden gehört dem Islam an, deren Loyalität zu ihrer eigenen Religion nicht selten den Genickbruch Kurdistans bedeutete, wie etwa die Großfürsten im Osmanischen Reich. Viel zu oft verstrickten sich die Kurden in religiöse Auseinandersetzungen. Um dieser Problematik effektiv entgegenzuwirken, beschwören kurdische Persönlichkeiten im Zuge des kurdischen Nationalismus zu Anfang des 20. Jahrhundert einen Geist herbei, der den ans Messer gelieferten Kurden sowohl eine geschichtlich fassbare, wie auch mythologische Grundlage für eine gemeinsame Identität verschaffen sollte: Zarathustra.

Am besten lässt sich dieses politisch motivierte Kalkül und doch komplexe Vorhaben mit einer Anekdote veranschaulichen: auf der Heimfahrt mit der Bahn saß mir ein Mann mittleren Alters gegenüber. Er las eine türkische Zeitung, sodass ich annahm, er sei Türke. Ich rief meine Mutter an, sprach mit ihr auf Kurdisch woraufhin er mich nach Beendigung des Telefonats auf Kurdisch ansprach. Es stellte sich heraus, dass er kurdischer Alevit und aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist, um seine Promotion abzuschließen. Auf Nachfrage gab mich als Êzîde zu erkennen, woraufhin er begann eher abfällig über Religion zu sprechen. Er sei Kurde, ein Anhänger Zarathustras, wie ich ja auch einer sei. Als ich ihm erklärte, dass Zarathustra kein Gegenstand der êzîdîschen Lehre sei, wies er mich zurück: „alle wissen doch, dass die Êzîden Zarathustrier sind. Wir alle sind Zarathustrier.“

„So spricht man im Volk zum Beispiel davon, daß ich nicht eine neue Politik, sondern eine vierte Religion schaffe. Im Gegensatz zu den Politikern bin ich eigentlich den Propheten näher.“[2]

Mit Zarathustra hat man eine zumindest halbwegs historische Figur, dessen Lehren eher als Philosophie ausgelegt werden können und somit nicht zu sehr der marxistisch geprägten kurdischen Politik zuwider sind. Hierzu gehörte dann auch, dass die Kurden fortan als Nachfolger der Meder bezeichnet wurden, ungeachtet dessen, ob dies nun der Wahrheit entsprach. Denn dies ist nicht zwingend der Fall.

Nun muss man sich auch die Frage stellen, weshalb die Êzîden, wenn Zarathustra ein Heiliger ihrer Religionsgemeinschaft sei, diesen nicht als solchen akzeptieren? Ganz einfach weil: er ist es nicht.

Und weil diese Tatsache auch vielen politisch aktiven Êzîden bewusst ist und war, versuchten sie es mit der Fälschung von Qewls zu korrigieren. Sie versuchten, Zarathustra zu einem Heiligen der Êzîden zu erklären. Hierbei handelt es sich um die Texte Qewlê Zerdeşt[3], Qewlê Pîrê Siba[4]  und Qewlê Newroz[5]. Diese wurden von sich êzîdîsch nennenden Vereinen auch in Zeitschriften publiziert[6]. Darüber hinaus publizieren sie Musikstücke, etliche Bücher, Symbole, Transparente, bezahlen Intellektuelle, damit sie das abdrucken, was ihrer Politik in die Karten spielt. Alles in Allem ein sehr großer Aufwand um eine Lüge zu rechtfertigen. Letztlich ist ihr System eines, das in wenigen Jahren ausgestorben sein wird. Sie haben nicht erkannt, dass die Êzîden in der Bildung einen riesigen Schritt nach vorne gemacht haben. Und wenn dieses System ausgestorben ist, dann werden wir die Frage stellen müssen: hättet ihr mit all diesem Geld nicht viel Besseres, Effektiveres bewirken können?

Sie haben sich der Pflege, dem Schutz und dem Erhalt der êzîdîschen Religion versprochen und sind gleichzeitig die größten Feinde. Der Begriff Feind ist ein sehr starkes Wort, deshalb sei es mir erlaubt, den Gebrauch zu erklären:

Sie verfälschen die êzîdîsche Lehre, die vom Blut ihrer eigenen Vorfahren beschützt wurde. Sie lügen und versuchen die êzîdîsche Gemeinschaft zu täuschen. Sie betrügen die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, in der Hoffnung in Freiheit ihre Religion ausleben zu können. Sie sind Marionetten einer Politik, auf die sie selbst keinen Einfluss haben, sie nicht gestalten können, sondern nur zu dienen haben. Sie dienen jenen, die einst ihren Tod wollten. Sie verfälschen die kurdische Geschichte und begebend sich auf denselben Pfad, den einst ihre eigenen Feinde begingen.

Es ist nicht notwendig auf die religiösen Unterschiede zwischen den Êzîden und den Zarathustriern einzugehen. Denn bei dieser Thematik geht es nicht um Religion, es geht um Politik. Und wir sollte die Frage aufwerfen dürfen, wieso gerade die Êzîden abermals die Opfer sein sollen?

Wer glaubt durch eine Lüge sein Ziel durchsetzen zu können, der sollte in die Vergangenheit blicken und erkennen, dass solche Vorhaben zum Scheitern verurteilt sind.

Hayrî Demir
êzîdîPress
19.09.2012


[1] Times New Roman 12

[2] Günter Wallraff im Gespräch mit den PKK-Führer Abdullah Öcalan, http://www.zeit.de/1997/10/wallraff.txt.19970228.xml/seite-5 (Stand: 18.09.2012)

[6] im Jahr 2001 in der Zeitschrift „Laliş“, Ausg. 15 (2001)