ProfAmoev
Der êzîdîsche Prof. Kerim Amoev

Liebe Leser, wir möchten Ihnen im Folgenden ein Interview mit dem Orientalisten, Doktor der Wirtschaftswissenschaften und Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Ausschusses des Geistigen Rates der Êzîden in Georgien (GRÊG) Prof. Kerim Amoev präsentieren. 

Sehr geehrter Herr Prof. Amoev, wir danken Ihnen für Ihre Bereitschaft, unserer Agentur ein Interview zu geben. Welche Ziele hat der Wissenschaftliche Ausschuss des GRÊG? Gibt es seit der Gründung dieses Gremiums bereits Ergebnisse in der Praxis? 

Prof. Amoev: Hallo liebe Freunde! Zuerst möchte ich Ihnen für die Anfrage danken. Ihre Webseite gefällt mir wirklich sehr und ich bin sicher, dass Sie für die Entwicklung und Förderung der Kultur, Bräuche und Sitten unserer alten Religion positive Ergebnisse erzielen werden.

Was Ihre Fragen bezüglich der Ziele, Aufgaben und die praktischen Ergebnisse des Akademischen Ausschusses des GRÊG angeht, möchte ich erwähnen, dass dieses Organ bei allen Aktivitäten des Hauses der Êzîden in Georgien eine wichtige Rolle spielt. Der Wissenschaftliche Ausschuss organsiert muttersprachlichen Unterricht in Kurmancî, ebenso unterrichten wir in Geschichte der Êzîden und der êzîdîschen Religion. Allmonatlich veröffentlichen wir die Zeitung „Nêrîna Nû“ (dt. Neue Perspektive) und haben die Wiedereinführung der traditionellen êzîdîschen Familiennachnamen initiiert. Gemeinsam mit dem Geistigen Rat und der Abteilung für Kultur organisieren wir außerdem verschiedenste Veranstaltungen, so etwa zu unseren Volksfeiertagen wie Eyda Xidir Nebî, Çarşema Sersal, Kloça Serê Salê usw. Das Bestreben des Wissenschaftlichen Ausschusses ist es auch, regelmäßig Konferenzen, Seminare, Symposien bezüglich der Geschichte, Literatur, Folklore und Religion der Êzîden durchzuführen. Hierfür wollen wir Ausstellungen einrichten und mit Organisationen aus anderen Ländern kooperieren, vor allem aber mit den Verantwortlichen in Lalish.

Oberste Priorität des Wissenschaftlichen Ausschusses ist es, das Kultur- und Bildungsniveau unserer Jugendlichen und somit in unserer gesamten Gemeinschaft zu erhöhen. Beispielweise planen wird derzeit eine vierteljährliche wissenschaftliche Publikation eines Nachschlagwerkes für Bildung und einen Zeitungs-Newsletter. Mit der Eröffnung unseres kulturellen Zentrums und der regionalen êzîdîschen Pilgerstätte „Zîyareta Êzîd“ in Tiflis werden auch unsere Aktivitäten zunehmen.

ÊzîdîPress: Während des Nationalsozialistischen Reiches sagte der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels einst: „Eine Lüge muss nur tausend Mal wiederholt werden, dann wird sie zur Wahrheit“. Auf Basis dieser Propagandamethode haben die Feinde der Êzîden mit den härtesten Mitteln der Neuro-Linguistischen Programmierung die Êzîden manipuliert. Derartige Trends können in allen Regionen, in denen Êzîden leben, beobachtet werden. In Europa beispielweise versucht eine Fünfte Kolonne die Êzîden zu Zoroastriern zu machen. In Russland hingegen versuchen bestimmte Personen, vor allem êzîdîsche Karrieristen und Konvertiten, das Êzîdentum parallel zum Zoroatrismuskult mit dem Islam in Verbindung zu bringen. Sehen Sie darin ein großes Problem und welche Motive spielen bei diesen Versuchen eine Rolle? Welche Kräfte stecken hinter diesen Machenschaften und wie sieht die Beziehung des Êzîdentums zum Zoroatrismus wirklich aus? 

Prof. Amoev: Ihre Frage betrifft die Kernessens der Herkunft der êzîdîschen Religion. Dies ist ein sehr interessantes und zugleich komplexes Thema. Deshalb muss ich etwas in Detail gehen und aus wissenschaftlicher Sicht auf diese Frage antworten. Was das Postulat des Propagandaministers von Nazi-Deutschland angeht, werden sich nur wenige dieser „Experten“ darauf berufen, weil sie hierfür nicht genug Wissen um die Bedeutung des Satzes haben. Diese verunglimpfen das Êzîdentum und versuchen zu „beweisen“, dass das Êzîdentum vom Zoroatrismus oder vom Islam, der Sunna, abstammt. Diese Versuche basieren auf keinerlei beweisbaren Quellen. Deshalb kann ich derartige Behauptungen nicht ernst nehmen. Wenn man nach Antworten auf diese Frage sucht, sollte man sich bei der Suche nach Êzîden-Kennern wie Prof. Kreyenbroek, Dr. Khalil Cindî, Dr. Zurabê Aloyan, Dîma Pîrbarî, Pîr Xidir Silêman usw. orientieren.

Und ja, solche selbsternannten „Experten“ gibt es überall. Ehrlich gesagt sehe ich hierin kein großes Problem, weil diese Personen weder Theologen, Orientalisten etc. sind. Ich meine, sie sind keine Wissenschaftler in diesen Bereichen. Es sind in der Regel bestimmte Gruppen unter den muslimischen Kurden und einigen Personen, die sich von ihrer Religion abgewendet haben und zu anderen Religionen konvertiert sind.

Laut dem Zensus von 2002 leben 17.116 Êzîden in Georgien. Von dieser Gesamtzahl der Êzîden in Tiflis sind etwa 20% konvertiert. Es ist eine Katastrophe. Und wie viele sind es erst in Russland und in anderen Ländern? Das ist das wesentliche Problem, das wir angehen und hiergegen stark ankämpfen müssen, um unsere alte Religion zu retten bzw. zu bewahren.

Wir wissen aus der Geschichte, dass verschiedenste Religionen sich schon immer gegenseitig beeinflusst haben. Das ist nicht überraschend. So war es mit dem Christentum, dem Judentum, dem Mithraismus, dem Zoroastrismus, dem Zurvanismus, dem Êzîdentum, dem Islam usw. Das bedeutet allerdings nicht, dass die eine Religion aus der anderen hervorgegangen ist. Zum Beispiel ist der Islam nicht aus dem Christentum entstanden, gewiss nicht. Viel mehr hatten sie einen starken Einfluss aufeinander. In dieser Hinsicht ist das Êzîdentum keine Ausnahme. Wir können eine gegenseitige Wechselwirkung bzw. Beeinflussung zwischen dem Êzîdentum und vor allem dem Mithraismus, dem Zurvanismus, dem Zoroastrismus und dem Sufismus beobachten.

Das Êzîdentum ist eine unabhängige, selbstständige Religion, das auf Grundlage der alten indo-iranischen Überzeugungen in Mesopotamien, in unmittelbarer Nähe zu den Indo-Ariern, entstanden ist und mit den Glaubensgrundzügen der indo-arischen Nachbarn verflochten ist. Beweise hierfür sind, dass die Hauptelemente dieser Religion – die Sonne (Shams/Sheshims, Feuer und Mond [Ager, Ates]) – bereits im sumerischen, babylonischen und assyrischen Pantheon (Shamash, der Göttin Isis usw.) zu finden sind.

Das Êzîdentum ist eine monotheistische Religion. Êzîden glauben an einen Gott, den Schöpfer (Xweda oder Êzîd/Ezda), der die Welt und die heiligen sieben Erzengel (Azrael, Dardail, Israfil, Mikail, Cibrail, Shamkail und Azazil) erschaffen hat. Das Oberhaupt der sieben Erzengel wird Tawisî Melek genannt. Nach êzîdîschem Glauben ist Gott allmächtig und allgegenwärtig. Das gesamte Weltgeschehen liegt in seiner Hand, in seinem Willen. In den heiligen Texten der Êzîden wird gesagt, dass Gut und Böse ein Prinzip ist, ebenso wie Tag und Nacht. Êzîden glauben, dass alles im Universum sein Gegenteil hat. Gott schuf die Sonne und den Mond, Tag und Nacht, Freude und Leid, Himmel und Hölle. Um das Wesen von etwas zu erfassen, muss man sein Gegenteil gesehen haben. Viele Wissenschaftler sehen die Quelle der Êzîden im zoroastrischen Kult, der vor allem in den Nordwestprovinzen des medischen Reiches verbreitet war. In der Tat gibt es auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Êzîdentum und dem Zoroastrismus (der Feuerkult, Heiligkeit des Wassers, Sonne, das Leben nach dem Tod usw.). Aber diese beiden Religionen widersprechen sich auch in grundlegenden Prinzipien und sind eindeutig verschieden. Das Grundprinzip im Zoroastrismus ist der ewige Kampf zwischen den beiden Gottheiten, dem guten Gott Ahura Mazda und dem bösen Gott Ahrîman, und dem Glauben an den Sieg des Guten über das Böse. Nach der êzîdîscher Lehre gibt es keine Personifikation des Bösen, so ist für die êzîdîsche Lehre das Epitheton (Beinname), den die anderen Religion diesem Bösen (dem bösen Engel) gegeben haben unverständlich. Sie glauben, dass einer der Engel mit seinen „verdammten“ Worten in Ungnade gefallen ist und betrachten dies als größte Sünde, weil er Gott wiedersprach. Nach den heiligen Texten/Hymnen der Êzîden kann niemand den Willen Gottes in Frage stellen, da nichts ohne seinen Willen geschehen kann. Die Êzîden glauben, dass die Menschen sich diese „böse Gestalt“ ausgedacht haben, um ihre schlechten Taten begreiflich zu machen bzw. sie zu rechtfertigen. Wir sehen also, dass im Êzîdentum ein Begriff des Bösen nicht existiert. Im Êzîdentum wird dieser Name auch nicht genannt, im Gegensatz zum Zoroastrismus. Hieran können wir sehen, dass es sich bei beiden Religionen um verschiedene Religion mit eigener Ideologie handelt. An dieser Stelle erinnern mich die Dogmen der êzîdîschen Lehren an die Theorie des großen russischen Schriftstellers Leo Tolstoi „Widerstehe dem Bösen nicht mit Gewalt“, die in seinen brillanten Werken wie die „Auferstehung“, „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ ihre Manifestation finden. Je öfter also eine Person die Gestalt des Bösen nicht erwähnt, desto besser für ihn. Das ist der Sinn dieser Philosophie. Hier möchte ich auch anmerken, dass ich die Möglichkeit nicht ausschließe, dass das alte Prinzip des Êzîdentums Einfluss auf die zoroastrische Religion ausgeübt hat.

ÊzîdîPress: Unter jenen von dieser Politik betroffenen Menschen gibt es viele, die der Überzeugung sind, dass das Fest Newroz ein êzîdîsches Fest darstellt. Können sie dem zustimmen?

Prof. Amoev: Newroz ist kein êzîdîsches Fest. Es wird vor allem bei den heute muslimischen Völkern iranischer Herkunft zelebriert. Ich sollte hinzufügen, dass dieses Neujahr bereits vor dem Islam im Iran präsent war. Die Muslime haben diese Tradition fortgeführt. Das êzîdîsche Neujahr im Kaukasus „Kloça Serê Salê“ unterscheidet sich ein paar Tage von Newroz. Die Êzîden haben ihr Neujahr noch nie mit dem persischen Wort Newroz belegt. Das Neujahrsfest der Êzîden wird bis heute „Sersal“ genannt.

ÊzîdîPress: Vor kurzem haben wir Ihr gemeinsames Werk mit Pîr Dîma über die „Êzîdîsche Schrift“ gelesen. Es hat einen großen Eindruck bei uns hinterlassen. Unserer Meinung nach ist es eines der besten Werke bezüglich dieser Thematik. Können Sie uns verraten, ob nun die Anstrengung unternommen wird, diese alte êzîdîschen Schrift wiedereinzuführen?

Prof. Amoev: Soweit mir bekannt ist, gab es zu dieser Thematik bis zu unserem Werk keine derartige Ausarbeitung. Der Versuch, die êzîdîsche Schrift wiederzubeleben ist für die êzîdîsche Identität sehr wichtig. Daher wollen wir diese Schrift neben dem lateinischen für die heiligen Texte anwenden und veröffentlichen.

ÊzîdîPress: Viele Wissenschaftler verweisen bei ihren Arbeiten über die Êzîden auf das „Meşefa Reş“ (dt. das Schwarze Buch) und das „Kitêbe Cilwa“ (dt. Buch der Offenbarung). In Laliş wurden diese beiden Bücher nie offiziell als êzîdîsche Bücher anerkannt. In Ihrem Buch „Die êzîdîsche Schrift“ haben Sie und Pîr Dîma resümiert, dass diese Bücher durch die Feinde der Êzîden gefälscht wurden. Können Sie uns hierzu etwas mehr erzählen?

Prov. Amoev: Für das Êzîdentum und für alle Êzîden ist es wichtig zu wissen, dass diese êzîdîschen Schriften mit den Namen „Meşefa Reş“ und „Kitêbe Cilwa“ tatsächlich existiert haben, trotz der Tatsache, dass viele Passagen in den Texten von den Feinden der Êzîden verfälscht wurden. Die Existenz dieser Bücher ist für die Geschichte der Êzîden als auch für Forscher sehr wichtig. Doch beim Studieren dieser Bücher sollte man immer sehr kritisch bleiben. Die einzig authentischen Quellen sind bis heute gewisse die Qewls (heilige Texte der Êzîden).

ÊzîdîPress: Im post-sowjetischen Raum spalten sich viele Êzîden von ihrer eigentlichen Religion ab und konvertieren zu verschiedenen christlichen Konfessionen. In Moskau gibt es sogar einige wenige, die zu den Wahhabiten konvertiert sind. In Georgien hingegen ist eine positive Entwicklung zu beobachten, viele Konvertiten kehren zum  Êzîdentum zurück. Wie groß ist die Zahl derer? Und wie könnte man gegen diese Entwicklung angehen?

Prof. Amoev: Ich habe eben schon einige Sätze hierzu geäußert. Wir müssen festhalten, dass gemeinsam mit dem Haus der Êzîden in Georgien und dem Geistigen Rat der Êzîden in Georgien diese Konvertiten wiederaufgenommen werden, sofern sie nicht die Heiratsregeln gebrochen haben. Mit der Eröffnung unserer lokalen Pilgerstätte (kurd. Zîyaret) in Tiflis, ist zu erwarten, dass dieser Prozess intensiver voranschreitet, heißt, dass vermehrt Konvertiten zurückkehren.

ÊzîdîPress: Wie sieht das Verfahren aus für Konvertiten? Was müssen diese Êzîden tun und an wen sollen sie sich wenden, wenn sie zu ihrer Wurzel zurückkehren möchten?

Prof. Amoev: Diese Êzîden müssen das Haus der Êzîden in Georgien kontaktieren.

Vielen Dank Prof. Amoev! Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg!

êzîdîPress, 04.04.2014

Das Interview wurde von den russischsprachigen êzîdîPress Redakteuren geführt