Lüneburg. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat am Dienstag mit zwei Urteilen (Az. 9 LB 133/19 und 9 LB 148/19) eine grundsätzliche Entscheidung über die Gruppenverfolgung von Êzîden aus der nordirakischen Region Shingal gefällt. Gegen ihre Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hatten zwei êzîdîsche Geschwister vor dem Verwaltungsgericht Hannover (12 A 11529/17 und 12 A 11707/17) Klage erhoben. Beiden wurde zuvor seitens des BAMF nur der subsidiäre Schutz zuerkannt. Das VG Hannover urteilte im April 2018, dass beiden die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden müsse.

Auf Antrag des BAMF hatte der 9. Senat des OVG Lüneburg die Berufung gegen die Urteile des VG Hannovers zugelassen, um die grundsätzliche Frage zu klären, ob weiterhin eine Gruppenverfolgung von Êzîden durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ in der Provinz Ninawa, zu der die Region Shingal gehört, bestehe. Bisher hatten Verwaltungsgerichte diese Frage unterschiedlich bewertet und sind vielfach von einer weiterhin generellen Gefahr – zumindest aber von einer Vorverfolgung –  durch die IS-Terrormiliz ausgegangen.

In einer am Mittwoch veröffentlichten Pressemitteilung erklärte das OVG Lüneburg zur Entscheidung, „der 9. Senat ist unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnisse zur Sicherheitslage in dem Distrikt Sindjar in der Provinz Ninive im Nordirak zu der Überzeugung gelangt, dass dort eine Gruppenverfolgung von Yeziden nach der militärischen Zurückdrängung des Islamischen Staates derzeit nicht hinreichend wahrscheinlich ist“. Eine Revision gegen die Urteile hat das OVG Lüneburg nicht zugelassen.

Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ das Hauptsiedlungsgebiet der êzîdîschen Minderheit in der Shingal-Region und verübte einen bis heute anhaltenden Völkermord an der Zivilbevölkerung. Zehntausende Êzîden, die aus Shingal vertrieben wurden, flüchteten nach Deutschland. Mit Urteil vom 15.08.2014 entschied unter anderem das Verwaltungsgericht Hannover (6 A 9853/14), dass Êzîden aus dem Irak, insbesondere aus der Region Shingal, einer Gruppenverfolgung ausgesetzt sind. Viele weitere Gerichte folgten dieser Auffassung.

In der Folge wurde das BAMF verpflichtet, êzîdîschen Asylantragstellern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Nachdem die IS-Miliz militärisch immer weiter zurückgedrängt wurde, änderte das BAMF seine bisherige Praxis und lehnte immer mehr Asylanträge von êzîdîschen Flüchtlingen ab. Viele dieser Bescheide wurden in erster Instanz von den Verwaltungsgerichten bisher jedoch aufgehoben.

Mit den Urteilen des OVG Lüneburg wird nunmehr eine gravierende Änderung in der Rechtspraxis eintreten. Êzîdîschen Flüchtlingen bleibt zu hoffen, dass ihnen aufgrund individueller Verfolgungsgründe wenigstens der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird.

Die Gefahr durch die IS-Terrormiliz bleibt trotz Auffassung des OVG Lüneburgs in der Region Shingal weiterhin bestehen. Erst vor wenigen Tagen kam es zu einem gewaltsamen Angriff einer IS-Zelle in Shingal, der von êzîdîschen Widerstandskämpfern und irakischen Sicherheitskräften zurückgeschlagen werden konnte.

Die Gefahr durch den IS ist trotz des militärischen Zurückdrängens weiterhin gegenwärtig. Insbesondere in der Region Ninawa, vor allem im irakisch-syrischen Grenzgebiet Shingal und Anbar, bestehe eine erhöhte Anschlagsgefahr. Der UN-Generalsekretär warnte in seinem achten Bericht vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dass der IS sich im Irak zu einem verdeckten Netzwerk entwickelt habe, das weiterhin lokale Anschläge verübt und weitere plane. Insgesamt sei der IS nicht besiegt, sondern konsolidiere seine Rückkehr stetig. Der Zufluss an Kämpfern aus der Arabischen Republik Syrien, von wo aus viele IS-Kämpfer aufgrund der Offensive gegen sie flüchten, stärke den IS im Irak zusehends. Ziel des IS sei es weiterhin, in der Gesellschaft Spannungen hervorzurufen und vor allem gegen Minderheiten gewaltsam vorzugehen. Ein vom Geheimdienst eines UN-Mitgliedstaates abgefangenes Dokument des IS belege, dass das Ziel des IS ein Wiederaufbau sämtlicher Strukturen sei. Zentrum des IS solle weiterhin der Irak und Syrien bleiben.

Die Terrororganisation verfüge weiterhin über 14.000 bis 18.000 Kämpfer. Im Irak seien mindestens 3.000 Kämpfer weiterhin aktiv, andere Quellen sprechen von weit höheren Zahlen. Zu den meistgefährdeten Regionen gehören die Provinzen Ninawa und Anbar, die durch ihr Grenzgebiet zu Syrien ein erhöhtes Aufkommen an IS-Kämpfern aufweisen. In diesen Grenzgebieten kommt es immer wieder zu bewaffneten Kämpfen mit lokalen Sicherheitskräften. Diese Situation werde sich, so der UN-Sicherheitsrat, verschärfen, wenn irakische IS-Mitglieder aus Syrien versuchen in den Irak zurückzukehren.