Shingal. Die Kampfeinheiten der kurdischen PKK werden sich aus der nordirakischen Shingal-Region zurückziehen. Dies teilte ihre Dachorganisation, die KCK, in einer am Freitag veröffentlichen Erklärung mit. Der Abzug erfolgt vor dem Hintergrund der erneuten Drohungen der türkischen Regierung, militärisch gegen die PKK in Shingal vorgehen zu wollen. Offenbar auch mit Bodentruppen. Mit dem nun angekündigten Rückzug der PKK in Shingal ergeben sich grundlegende Veränderungen für die Situation vor Ort.
Hintergrund
Vertreter des irakischen Militärs und des Verteidigungsministeriums hatten sich in den vergangenen Tagen im Norden der Shingal-Region, in der Kleinstadt Khanasor, mehrfach mit PKK-Funktionären zu Verhandlungen getroffen. Anders als die kurdische PDK-Führung im Nordirak – einer mit der PKK rivalisierenden Partei – hatte die irakische Regierung lautstark gegen die laufende Militäroperation der türkischen Streitkräfte gegen die PKK im Nordirak protestiert. Um einen ähnlichen Militäreinsatz in der Shingal-Region zu verhindern, übte die irakische Regierung Druck auf die PKK-Führung aus, ihre Kämpfer aus Shingal abzuziehen.
In Shingal hatte sich die PKK seit August 2014 niedergelassen, nachdem sie der êzîdîschen Zivilbevölkerung gegen den Ansturm der IS-Terrormiliz zur Hilfe geeilt war und zehntausende Menschen zusammen mit Kämpfern der YPG aus dem Gebirge befreite. Die PKK galt, trotz weitgehend fehlender Unterstützung durch die Anti-IS-Koalition, als stärkste Kraft in Shingal. Praktisch im Alleingang eroberte sie weite Teile der West- und Südregion in Shingal zurück und lieferte sich monatelang einen blutigen Häuserkampf gegen den IS in Shingal-Stadt. Parallel bildete sie aus der lokalen Bevölkerung die êzîdîsche Selbstverteidigungseinheit YBŞ aus, die heute aus etwa 1.500 Kämpfern besteht. Die Êzîden sollten in die Lage versetzt werden, sich selbst verteidigen zu können, hieß es bei der Gründung der YBŞ.
Die Türkei erklärte, man werde verhindern, dass die PKK aus Shingal ein „zweites Kandil“ mache. Im Kandil-Gebirge nahe der Stadt Erbil hat die PKK ihren traditionellen Hauptsitz. Erste Luftschläge der Türkei gegen Stellungen der YBŞ und PKK in Shingal hatte es im April 2017 bereits gegeben, sodass die Drohungen der Türkei nicht als leere Warnungen verstanden werden konnten – vor allem nicht von irakischer Seite, die darin eine Bedrohung der territorialen Integrität ihrer Grenzen sieht.
Die Folgen
Tatsächlich hätte die PKK es mit der Türkei zu einer bewaffneten Auseinandersetzungen in Shingal kommen lassen können. Die Dachorganisation der PKK, die KCK, aber erklärte, man sei auch heute noch für die Sicherheit der Êzîden verantwortlich und werde sich zum Schutz der Zivilisten zurückziehen. Damit wird eine direkte Konfrontation mit türkischen Bodentruppen und Söldnern verhindert und die êzîdîsche Bevölkerung von einem neuen Krieg verschont. Auch ein Krieg zwischen dem Irak und der Türkei hätte gedroht und die Region noch tiefer ins Chaos gestürzt.
Weiterhin verhindert der freiwillige Rückzug der PKK auch eine Rückkehr der PDK in die Shingal-Region. Bei einer türkischen Offensive wäre es wahrscheinlich gewesen, dass die PDK-Peshmerga mit türkischer Billigung am Boden erneut in die Region vorgestoßen wären. Die Peshmerga wurden im Laufe der irakischen Offensive im November 2017 vertrieben. Der PDK fehlt heute praktisch jeder Zugriff auf die Region, die sie sonst immer vehement als Teil ihres Herrschaftsgebietes verstand.
Die von der PKK kontrollierten Gebiete in Shingal werden an die irakische Regierung übergeben. Darauf hatten sich beide Seiten während den Verhandlungen in Khanasor geeinigt.
Verärgert über dieses Abkommen wird aber nicht nur die PDK-Partei sein, sondern auch arabisch-sunnitische Stämme, die unter anderem von der Türkei in Bashiqa ausgebildet werden. Sie hofften bei einer möglichen Offensive der Türkei in Shingal, ähnlich wie in Afrin, von der Türkei unterstützt zu werden und die Shingal-Region sowie Tal Afar und Baaj erobern zu können.
Die Übergabe der Gebiete an die irakische Zentralregierung wird zudem für mehr Stabilität in dem bis heute brach liegenden Hauptsiedlungsgebiet der Êzîden führen. Auch wenn nur wenige Êzîden der irakischen Regierung vertrauen, wird die Abwesenheit einer weiteren Partei die politische Lage in Shingal entspannen. Eine Vereinigung der verschiedenen êzîdîschen Einheiten und Parteien in Shingal scheint damit wahrscheinlicher zu werden.
Der Rückzug der PKK bedeutet damit auch, dass die letzte in Shingal verbliebene kurdische Partei bzw. Großorganisation ihren unmittelbaren Einfluss verliert. Dies hatte es seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr gegeben.
Zukunft der YBŞ
Mit dem Abzug der PKK wird der Türkei die gewichtigste Argumentationsgrundlage einer möglichen Invasion der Shingal-Region genommen. Im Anschluss an den Rückzug ist jedoch zu erwarten, dass die Türkei sich wie in Afrin auf die Behauptungen berufen wird, bei der YBŞ handele es sich um einen verlängerten Arm bzw. um eine Unterorganisation der PKK.
Der offensichtliche Eindruck, der auch von vielen Êzîden und Kurden geteilt wird, die YBŞ werde als verlängerter Arm der PKK in Shingal aktiv bleiben, täuscht. Vielmehr war eine Voraussetzung des Abzuges der PKK, dass die YBŞ von der irakischen Zentralregierung erneut als êzîdîsche Einheit anerkannt und in die irakische Sicherheitskräfte integriert wird, wie ein ÊzîdîPress-Korrespondent aus Shingal mitteilte. Darauf hätte vor allem die irakische Seite gedrängt.
Die YBŞ soll künftig unter irakischem Kommando stehen und die bisher von ihr kontrollierten Gebiete im Westen der Region als irakische Polizei und Sicherheitskräfte weiterhin bewachen dürfen. Die genaue Tragweite dieser Integration steht allerdings noch nicht fest. Der Irak hatte sich in den vergangenen Monaten bemüht, die verschiedenen êzîdîschen Einheiten und Kämpfer (HPÊ, YBŞ, Hashd, ehemalige Peshmerga) zu vereinen und dem irakischen Militär zu unterstellen.
Derzeit ist davon auszugehen, dass die YBŞ wie auch die êzîdîschen Kämpfer der Hashd-Einheiten langfristig aufgelöst und in das irakische Militär eingegliedert werden. Eine Entwaffnung der YBŞ oder anderer êzîdîscher Einheiten wird es nicht geben. Eine Lektion, die die Êzîden schmerzlichst mit der Flucht der Peshmerga und der irakischen Armee lernen mussten, als die IS-Terrormiliz das Shingal-Gebiet überfiel.
Die Reaktionen
Êzîdîsche Verantwortliche – darunter auch pro-PKK Funktionäre – haben sich nach der Ankündigung der PKK positiv geäußert. Saib Khidir, êzîdîscher Jurist der in Bagdad auf höchster Ebene mit der irakischen Regierung arbeitet, bezeichnete den Schritt der PKK als „weise und korrekte Entscheidung“. In den sozialen Netzwerken haben sich êzîdîsche Aktivisten, Flüchtlinge und Genozid-Überlebende bei der PKK für ihren Einsatz in Shingal bedankt und an ihre Taten erinnert. Unter ihnen viele, die ohne die Hilfe der PKK wohl im umzingelten Gebirge gestorben wären.
Der êzîdîsche Aktivist Muhannad Sinjari aus Bashiqa sagte, die Entscheidung der PKK sei „ein Sieg, kein Rückzug“. „Die Entscheidung sich für die Êzîden zurückzuziehen ist ein Sieg, couragiert und nicht weniger stolz als der Moment, als sie Shingal betraten um tausende im Shingal-Gebirge belagerte Familien zu retten. Die folgenden Generationen werden sich an diese Heldentaten und die humanitäre Hilfe erinnern.“
© ÊzîdîPress, 24. März 2018