Zaxo, Irak. Das Todesurteil gegen einen jungen Êzîden im Irak sorgt derzeit für große Empörung unter den Êzîden. Dem 20-jährigen Khaled Shamo wird vorgeworfen, am 03.08.2017 für die Ermordung eines kurdischen Sunniten in Shingal verantwortlich zu sein. Der Vorfall führte seinerzeit zu einer Eskalation zwischen den Êzîden und dem sunnitischen Stamm, dem das Opfer angehörte. Der sunnitische Stamm drohte gar mit Krieg.
Das Urteil sei falsch und gegen einen Unschuldigen gefallen, sagt die Familie von Shamo, die den Völkermord der Terrormiliz „Islamischer Staat“ nur knapp überlebt. Für ihre Behauptungen legt die Familie starke Beweise vor, die offenbar vom Gericht wissentlich unterschlagen worden sind. Die Dimension des Falles aber ist weitrechender als zunächst erkennbar und könnte eine Eskalation hervorrufen. Auch êzîdîsche Befehlshaber und Kommandeure, darunter Heydar Shesho und Khal Ali, haben sich unterdessen zu Wort gemeldet. Was ist geschehen?
Hintergrund
Am 03.08.2017 werden im äußersten Norden der Shingal-Region zwei Männer unmittelbar auf irakischer Seite des syrisch-irakischen Grenzgebietes mit automatischen Waffen angegriffen. Das Gebiet nahe der Stadt Khanasor ist unbewohnt und als Schmuggler-Route berüchtigt. Einer der Männer stirbt noch am Tatort, der zweite überlebt schwer verletzt und trägt massive Folgeschäden davon, darunter eine gänzliche Erblindung.
Beide Männer gehören dem kurdisch-sunnitischen Stamm der Gergerî an. Die in der Nähe stationierten Rojava-Peshmerga beschuldigen die PKK, für den Angriff verantwortlich zu sein. Die bestreitet jede Beteiligung und beschuldigt wiederum die Peshmerga, den Angriff ausgeführt zu haben. Der Gergerî-Stamm bezichtigt die Êzîden und droht mit Krieg.
Am 06.10.2017 werden in der Folge drei Männer festgenommen. Nawaf H., Ibrahim H. und Khaled Shamo sollen die Tat gemeinsam begangen haben. Nawaf H. und Ibrahim H. werden bald entlassen, Shamo jedoch bleibt in Haft. Den Ermittlungsbehörden sei vom Stamm der Opfer des Angriffes der Name „Khaled Shamo“ genannt worden.
Die Anklage
In der Anklageschrift des Gerichtes der Provinz Ninawa, die die Familie Shamo gegenüber ÊP erläuterte, wird Khaled Shamo als Täter beschuldigt. Er soll unter anderem auch das Fahrzeug der Täter geführt haben. Weiterhin steht wörtlich in der Anklageschrift, „Khaled Shamo Qirani aus Bara“ sei „Mitglied der PKK“ und „für die Ermordung (mit-)verantwortlich“.
Der Überlebende des Angriffes tritt im Gerichtsprozess als Zeuge auf und will, trotz seiner gänzlichen Erblindung, Khaled Shamo als Täter identifiziert haben. Das Gericht stellte keine weiteren Fragen. Etwa, wie er den Beschuldigten identifiziert haben will.
Die Familie widerspricht den Vorwürfen vehement. Die Familie und damit auch ihr Sohn stamme aus Siba Sheik Khidir, das im Süden der Shingal-Region liegt. Khaled Shamo habe weder Bara noch Khanasor je besucht, noch sei er jemals Teil einer Kampfeinheit gewesen. Zum Tatzeitpunkt sei er gerade 18 Jahre alt geworden und besuchte bis dahin die 9. Klasse. Die Familie flüchtete nach dem Völkermord in die Autonome Region Kurdistan, wo sie seit 2014 in dem Flüchtlingslager Qadia bei Zakho lebt.
Zudem verfügte Khaled Shamo weder über eine Fahrerlaubnis, noch wisse er, wie man ein Fahrzeug steuere, erklärt der Vater der Familie. Am Tag der Tat sei sein Sohn ebenfalls im Flüchtlingslager gewesen und habe sich an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Völkermordes beteiligt. Êzîdîsche Aktivisten untermauerten diese Behauptung, indem sie Bilder und Videos der Veranstaltung, auf denen Khaled Shamo zu sehen sein soll, vorlegten.
Auch der in der Anklageschrift verwandte Name des Beschuldigten ist sonderlich. Bezeichnet wird der Angeklagte als „Khaled Shamo Qiran“. Der Zusatz „Qirani“ ist kein Teil des offiziellen Namen von Khaled Shamo und weder Bestandteil seiner Ausweisdokumente, in denen er Khaled Shamo Serhan Abdo heißt, noch hat er den Zusatz „Qiran“ persönlich in der Öffentlichkeit benutzt. Er verwendete diesen lediglich auf seinem Facebook-Profil. Die Familie Shamo vermutet, dass die irakischen Ermittlungsbehörden den zuvor genannten Namen Khaled Shamo lediglich in das Suchfeld von Facebook kopiert haben und den nächstbesten Êzîden als Täter bezeichneten. Der Name Khaled Shamo kommt mehrfach vor. Auch so erklärt sich die Familie, warum ihr Sohn erst nach über zwei Monaten verhaftet wurde. Offenbar seien die Ermittlungsbehörden darauf bedacht gewesen, den Fall schnell zu den Akten legen zu wollen.
Das stärkste Indiz für eine Unschuld Khaled Shamos aber liefert die Polizei selbst. Diese hat ausgesagt und ebenfalls bezeugt, dass Khaled Shamo zum Tatzeitpunkt im Flüchtlingslager gewesen sei. Das Gericht hingegen ignoriert die Aussagen und schmetterte die Gegenbeweise ohne erkennbaren Grund ab.
Sowohl êzîdîsche als auch muslimische Zeugen aus dem Flüchtlingslager haben ausgesagt, dass Khaled Shamo zum Tatzeitpunkt im Flüchtlingslager gewesen sei. Doch auch auf diese Aussagen sei der Richter nicht weiter eingegangen.
Der Skandal
Die Êzîden hingegen vermuten hinter dem Urteil einen Justizskandal. Der Richter, der das Urteil gegen Khaled Shamo fällte, ist ein muslimischer Kurde und Mitglied des Keçala-Stammes aus Shingal. Dieser hatte sich mehrheitlich während des Völkermordes des IS gegen die Êzîden der Terrormiliz angeschlossen und war für die Ermordung zahlreicher Êzîden verantwortlich.
Es besteht der begründete Verdacht, dass einer der Anführer des Gergerî-Stammes, Masoud Saadoun, der den Êzîden damals mit Krieg drohte, auf eine Verurteilung drängte und sich mit dem Richter abgesprochen habe. Saadoun hatte seinen Stamm in der Vergangenheit immer wieder gegen die Êzîden aufgewiegelt. Eindeutige Beweise für eine Absprache zwichen Saadoun und dem Richter liegen jedoch nicht vor.
Für die Êzîden aber scheint das Ignorieren der Gegenbeweise durch den Richter nicht anders zu erklären zu sein. Warum ignoriert das Gericht die Aussagen der Polizei, Bilder und Videos und beharrt auf offensichtlich falschen Aussagen?
Urteil und Empörung
Am 04.02.2020 kommt das Gericht zu einer Entscheidung und verurteilt den 20-jährigen Khaled Shamo auf Grundlage der Anti-Terror-Gesetze zum Tode durch Erhängen. Das Todesurteil soll am 10. März 2020 vollstreckt werden.
In ihrer Verzweiflung wendet sich die Familie Shamo an die Öffentlichkeit und bittet insbesondere die êzîdîsche Gemeinschaft um Hilfe. Die ist über den Vorgang so empört, dass sich auch hochrangige êzîdîsche Persönlichkeiten zu Wort melden. Der êzîdîsche Parlamentsabgeordnete Saeb Khidir hat angekündigt, juristisch gegen das Urteil vorgehen zu wollen.
Der Vorfall könnte die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen den Êzîden und den islamischen Stämmen in der Shingal-Region weiter befeuern und zu einer Eskalation führen. Die Familie Shamo indes hofft, dass das Urteil angefochten und das Leben ihres Sohnes gerettet werden kann.