êzîdîPress Redakteurin Parî Îbrahim mit Vian Dakhil
êzîdîPress Redakteurin Parî Îbrahim mit Vian Dakhil

Brüssel (Belgien) – Mit ihrem emotionalen Appell im irakischen Parlament richtete sie die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft auf den Völkermord im Irak. Selbst US-Präsident Obama zeigte sich gerührt und veranlasste kurze Zeit später erste Hilfsmaßnahmen für die Vertriebenen auf dem Shingal-Gebirge.

Vian Dakhil ist Biologin, Politikerin der Demokratischen Partei Kurdistans und langjährige Abgeordnete des irakischen Parlamentes. Als Tochter einer êzîdîschen Familie aus Shingal im Nord-Irak fühlt sie sich verpflichtet, ihre Gemeinschaft auch international zu vertreten. So reiste sie am 6. September nach Brüssel, um hier an mehreren Konferenzen teilzunehmen und mit hohen Persönlichkeiten der Europäischen Union über die weiterhin katastrophale Lage der Flüchtlinge im Irak und Kurdistan zu beraten.

ÊzîdîPress Redakteurin Parî Îbrahîm traf Vian Dakhil am 10. September zum Interview. Von den Strapazen der letzten Wochen und besonders nach dem Helikopterabsturz sichtlich gekennzeichnet, mache Frau Dakhil dennoch keinen Anschein ihr Engagement zu mindern. Wir haben mit ihr über ihre Erlebnisse und einige für die êzîdîsche Gemeinschaft wichtige Fragen gesprochen. Andere spannende Fragen folgen in einem gesonderten Interview mit Fr. Dakhil.

Frau Dakhil, wie geht es Ihnen nach dem Helikopterabsturz? Wie genau kam es zu diesem Unglück? Die Êzîden hatten sich Sorgen um ihren Gesundheitszustand gemacht.

Vian Dakhil: „Die Êzîden in Shingal haben mehr erleiden müssen als ich. Wir sollten uns über ihre Situation Sorgen machen. Jeder wusste, dass die Menschen im Shingal-Gebirge Hilfe brauchen. Deswegen bin ich mit einem Helikopter, Wasser und Nahrung zu ihnen geflogen. Diese Kinder, diese Menschen. Wenn man in ihre Augen sah wusste man, wie sehr sie gelitten haben. Im Fernsehen und auf Bildern kann man den Schmerz sehen, wenn man ihnen aber mit eigenen Augen gegenübersteht, spürt man den Schmerz. All diese Angst und das Leid, der Anblick war unerträglich.

Wir konnten nur die älteren Menschen, Frauen und Kinder mitnehmen. Jeder rannte so schnell er konnte zu dem Helikopter. Als zu viele in den Helikopter stiegen, gab der Pilot ein Zeichen, dass der Helikopter zu schwer sei. Wir zwangen einige aus dem Helikopter zu steigen, dann hoben wir zum Abflug an. Aber das Gewicht des Helikopters war noch immer zu schwer. Er schlug nach links und nach rechts aus. Ich sah, wie der Helikopter sich wieder senkte. Der Pilot versuchte ihn Oben zu halten. Mit einem Wimpernschlag stürzten wir dann ab. Mit der Nase voran stürzte der Helikopter zu Boden und wir verunglückten. Ich wusste nicht, ob ich noch lebe oder gestorben bin. Ein starker Druck an meinem Bein machte sich breit, es schmerzte sehr. Ich hörte wie die Menschen einander halfen. Ich lag auf dem Boden des Helikopters, weil mein Sitz rechts hinter dem Piloten war. Als ich realisierte, dass ich noch atme versuchte ich Dr. Mirza zu rufen. Ich sagte, dass ich atme, dass ich lebe. Aber von Dr. Mirza kam keine Antwort. Ein junger Mann versuchte nach meiner Hand zu greifen, konnte mich aber nicht nach oben ziehen. Mein Bein und meine Rippen waren gebrochen. Drei weitere junge Männer kamen und halfen mir aus dem Wrack des Helikopters heraus. Ich musste mein Bein dabei festhalten. Ich kannte diese jungen Männer nicht, aber ich danke ihnen von ganzem Herzen. Der Helikopter stürzte nahe einer Basis der ISIS ab, aber wir hatten Glück dass kurdische Streitkräfte schnell eintrafen. Ein anderer Helikopter kam dann um uns zu retten. Leider starb unser Pilot beim Absturz, der Rest hatte Glück überlebt zu haben.“

Wie haben Sie den ersten Tag erlebt, als der IS über Shingal herfiel?

Viyan Dexîl |privat
Viyan Dexîl |privat

Vian Dakhil: „Ich hörte wie das Telefon um sechs Uhr morgens klingelte. Als ich abnahm, hörte ich die schlechte Nachricht, dass der IS Shingal eingenommen hatte. Ich konnte es nicht glauben. Für drei Minuten stand ich einfach da, regungslos. Ich dachte darüber nach, was ich gerade gehört hatte. Zwei Dinge gingen mir durch den Kopf: erstens, ich sollte zum Gebirge von Shingal und den Menschen dort helfen, so wie es viele andere getan haben. Oder zweitens, meine Position als Abgeordnete des irakischen Parlamentes nutzen und meine Stimme erheben, sodass die ganze Welt mich hören kann. Ich entschied mich für letzteres, weil ich als êzîdîsche Abgeordnete meine Stimme für mein Volk erheben sollte. Auf diesem Weg konnte ich mehr erreichen und behilflicher sein. Nach zwei Tagen bin ich nach Bagdad [in das irakische Parlament; Anm. d. Red.] gereist und versuchte dort auf die Lage aufmerksam zu machen und weltweite Hilfe anzufordern.“

Die Peshmerga sind geflüchtet, noch ehe die Menschen in Shingal flüchten konnten.

Viyan Dakhil: „Es ist bekannt, dass viele der Peshmerga, die die Menschen in Shingal hätten beschützen müssen, noch vor den Menschen selbst flüchteten. Präsident Barzanî hat einige dieser Peshmerga suspendiert. Ich war dankbar, dass Präsident Barzanî unverzüglich Maßnahmen gegen jene Peshmerga einleitete, aber natürlich ist diese Strafe nicht genug. Es liegt zwar außerhalb meines Arbeitsfeldes, dennoch bin ich nach Kurdistan gereist und verlangte dort die Bestrafung der Peshmerga, die die Êzîden im Stich gelassen haben. Ich werde weiterhin mit der kurdischen Regierung darüber sprechen, weil sie für die Peshmerga verantwortlich ist. Diese Männer müssen mit einer Strafe belegt werden, die sie verdient haben. Die Untersuchung muss von offizieller Stelle geleitet und öffentlich sein, jeder sollte sehen, dass diese Männer die Strafe bekommen, die sie verdient haben. Sie müssen der Welt erklären, weshalb sie geflüchtet sind und wenn sie Unrecht begangen haben, gehören sie bestraft. Ich werde mich persönlich hierfür einsetzen.“

Was versuchen Sie hier in Belgien zu erreichen?

Vian Dakhil: „Ich wurde zur Konferenz „Frieden ist die Zukunft“ eingeladen. Etwa 2.000 Menschen aus rund 150 Staaten nahmen hieran teil. Sie gaben mir Zeit eine Rede zu halten. Mit meiner Rede zeigte ich jedem, was die Êzîden brauchen. Ich wusste dass sich jeder der Anwesenden um die Êzîden sorgte. Ich sagte ihnen, dass wir Waffen brauchen. Die Kurden brauchen sie, aber auch die Êzîden selbst. Waffen für die Êzîden, damit sie sich selbst verteidigen können. Ich erwähnte außerdem einen Plan zur Hilfe der Êzîden, den die Weltgemeinschaft einheitlich verfolgen muss, um das Leid der Êzîden zu beenden.

Ist eine autonomer Status der Region Shingal möglich?

Vian Dakhil: „Wir können mit einer eigenen Verteidigungseinheit der Êzîden beginnen, wir haben genug junge Männer, die gut trainiert die Êzîden schützen könnten. Aber wir brauchen die Hilfe der Weltgemeinschaft um dies umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt brauchen wir jedenfalls jemanden, der stark ist und das sind die Peshmerga, auf die Hilfe der Araber können wir nicht warten. Bis dahin müssen wir auf die kurdischen Streitkräfte zählen“

Von den arabischen Nachbarn fühlen die Êzîden sich verraten und wollen nicht mehr mit ihnen zusammenleben.

Vian Dakhil: „Ich glaube nicht, dass die Araber auch nach der Befreiung von Shingal dort weiterhin leben möchten, weil alle Êzîden wissen, dass die Araber in Shingal dem IS bei der Einnahme der Region geholfen haben. Diese Araber haben ebenso viele êzîdîsche Männer und Kinder getötet, Frauen und Mädchen verschleppt. Die Êzîden vertrauen ihnen nicht mehr, sie haben zu viel erleiden müssen. Sie können nicht mit Arabern in einem Dorf leben. Der Schmerz für jene, die Mutter, Vater, Ehefrau, Ehemann oder Kinder verloren haben wird zu stark sein. Die Lage könnte deswegen eskalieren, Êzîden und Araber damit beginnen sich gegenseitig zu töten, wenn der IS vertrieben wird. Die Araber müssen Shingal verlassen.“

Viele Êzîden in Europa möchten Waisenkinder adoptieren. Wie denken Sie darüber?

Vian Dakhil im Heiligtum der Êzîden Lalish | privat
Vian Dakhil im Heiligtum der Êzîden Lalish | privat

Vian Dakhil: „Ich glaube nicht, dass wir den Kinder etwas Gutes tun, wenn wir beginnen sie zu adoptieren. Diese Kinder haben viel gelitten. Es ist unsere Pflicht, ihnen einen friedlichen Platz zum Leben zu geben. Ich bin mir nicht sicher, ob es die richtige Antwort ist, sie nach Europa zu holen. Wir sollten diese Kinder in der Gegenwart ihrer Familien und Freund lassen. An einem Ort, den sie bereits kennen. Was jeder von uns tun sollte ist, eine Patenschaft für ein Kind zu übernehmen, es monatlich mit Geld zu untersützen, bis er oder sie volljährig wird. So können die Kinder an einem Ort bleiben, der ihnen vertraut ist und wo man sich um sie kümmert. Diese Kinder in Haushalte aufzunehmen, wo sie niemanden kennen und das nach all dem was sie erleiden mussten, kann nicht gut für sie sein. Deshalb möchte ich auf diese andere Option hinweisen. Ich hoffe, dass jeder der helfen kann wenigstens für ein Kind sorgen wird.“

Was können die Êzîden in Europa für die Menschen im Irak und in Kurdistan tun?

Vian Dakhil: „Das wichtigste ist, der Welt zu zeigen, dass wir Êzîden sind und bleiben werden. Wir müssen stark sein. Meine Botschaft richtet sich an unsere junge Generation, die eine Organisation für alle Êzîden in Europa schaffen soll. Über diese Organisation sollten dann Gelder und weitere notwendige Mittel gesammelt werden. Auch um im ständigen Austausch bleiben, um zu wissen, was genau mit den Êzîden geschieht. Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, unseren Menschen zu helfen indem wir der Welt zeigen, wer wir sind. Hört nicht auf zu demonstrieren, macht zusammen weiter. Seid alle Eins, gemeinsam ist man stärker.”