[S]eit Jahrhunderten werden Yeziden aufgrund ihrer religiösen Identität in ihren Heimatgebieten in Kurdistan systematisch verfolgt. Eine Tatsache, die sich in jedem Geschichtsbuch nachschlagen lässt – oder man vergegenwärtigt sich die yezidische Diaspora: Mit einem Anteil von rund 50% der Gesamtpopulation der Yeziden, verteilt auf vier Kontinente, die von einer signifikanten Kraft im Nahen Osten zu einer Minderheit dezimiert wurde.
Rainer Hermann, FAZ-Redakteur und Islamwissenschaftler, behauptet in seinem vor wenigen Tagen publizierten Artikel „Der Koran. Eine Tötungslizenz?“, dass die Yeziden in der Geschichte des Islam „nie systematisch verfolgt wurden“ und ihre Unterdrückung „erst heute“ stattfinde. So heißt in seinem Artikel:
„Aus dem Kontext genommen, klingen einzelne Textstellen wie Tötungslizenzen. Dass sie das nicht sind, zeigt auch die historische Erfahrung: So sind in der Geschichte des Islam die Yeziden, die für die Muslime „Götzendiener“ sind, nie systematisch verfolgt worden; das geschieht erst heute.“ [Hermann, Rainer; Der Koran. Eine Tötungslizenz?, URL: http://www.faz.net/-gpf-7ycl9, Stand: 10.01.2014]
Es ist gerade die „historische Erfahrung“ der Yeziden im islamischen Machtraum, die gegen sie gerichtete systematische Verfolgung, legitimiert durch Koranverse, untermauert.
Nicht etwa gestützt von bedeutungslosen Predigern oder einer blutrünstigen Gruppe wie der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), sondern von obersten Gelehrten des Islam, allen voran im Osmanischen Reich (Yeziden wurden aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit auch später nie in das Millet-System des OR integriert, [Kizilhan 2014]).
Wie auch die Zoroastrier waren und sind Yeziden im Nahen Osten einer fortwährenden systematischen, sowohl gesellschaftlichen als auch institutionellen, Verfolgung durch „den Islam“ ausgesetzt [siehe Bruinessen; 1992, S. 24]. Sei es in den heutigen Nationalstaaten Türkei, Syrien, Irak, dem Iran oder in den islamischen Dynastien vergangener Jahrhunderte. Auch zu Zeiten, in denen der IS nicht existierte, wurden Yeziden geköpft, gepfählt oder bei lebendigem Leib verbrannt [Guest; 1993]. Die Gebiete der Yeziden wurden per Fatwa offiziell zu „Kriegsgebieten“ (arab. Dār-al Harb) erklärt, die Tötung bzw. Bekehrung der Yeziden sowie die gewaltsame Besetzung ihrer Gebiete galt als religiös gebotene Pflicht eines jeden Muslim [Menzel; 1997, S. 416 f.].
Als eine Religionsgemeinschaft, welche keine Buchreligion ist, waren die Yeziden im Machtbereich des Islam praktisch vogelfrei [Layard; 1854, S. 174f]. Dem Koran nach – gleich welcher Auslegung oder Rechtsschule – fallen die Yeziden wegen des Fehlens einer heiligen Schrift nicht in die Kategorie der ahl al khitab (Schriftbesitzer), womit ihnen keine Sonderrechte im Machtbereich des Islam zugestanden werden. Während den Anhängern der abrahamitischen Religionen und damit den Schriftbesitzern unter Voraussetzung der Zahlung einer Kopfsteuer, auch Dschizya genannt, das Leben ermöglicht wird, müssen sich Yeziden gemäß dem Koran entweder für die Konvertierung oder den Tod entscheiden. Weder die Inanspruchnahme eines Sonderstatus noch die für Schriftbesitzer geltenden Regeln werden ihnen eingeräumt.
Schließlich flüchtete auch die heute in Deutschland lebende yezidische Gemeinschaft vordergründig infolge der systematischen, gesellschaftlichen aber auch institutionellen Verfolgung in der Türkei. Der türkische Staat markierte die Identitätsausweise der Yeziden mit spezifischen Symbolen, um sie als Nicht-Muslime erkennbar zu machen.
Unzählige Fatwas, islamische Rechtsgutachten, wurden von den obersten islamischen Gelehrten in den vergangenen Jahrhunderten in Umlauf gebracht, die zur Verfolgung, Versklavung und Tötung der Yeziden sowie zum Raub ihres Eigentums aufriefen [Kizilhan; 1991, S. 45 ff.].
Zum Beispiel „die des Al-Scheikh Ahmad Bin Mustafa Abu As-Su’du Al- Amadi (896 – 982 h.) [1490 – 1574 n. Chr.], der den Posten des religiösen Gutachters im Jahre 952 h. [1545 n. Chr.] für 30 Jahre zur Zeit des Sultan Sulaiman Al-Qanuni und des Sultan Salim des II. bekleidete. Er erlaubte durch sein religiöses Gutachten den Kampf gegen sie [die Yeziden; Anm. d. Red.], sowie das Schänden ihrer Frauen und Kinder. Sie zu töten sei legitim, sie seien größere Ungläubige als die echten Ungläubigen, ihre Tötung würde zu den religiösen Pflichten gehören, und er zählte sie zu den Apostaten (Leute, die vom Islam abgefallen sind.)“, [arabische Historiker Sadiq al-Damluji in seinem Werk „al-Yazidiya“, Mosul, 1949 S. 428 – 444; ins Deutsche übersetzte von Dr. Zaradachet Hajo].
Der berühmte sunnitische Gelehrte Taqī ad-Dīn Ahmad ibn Taimīya (1263 – 1328), dem der ehrenwerte Titel „Sheikh ul-Islam“ verliehen wurde, sprach ebenfalls eine Fatwa gegen die Yeziden aus und erklärte sie zu „Kuffars“, also Ungläubigen, die bekämpft werden müssten [Sleiman, Pier Khider 2005, S. 7-25].
Im Jahre 1415 erließ der persisch-islamische Theologe Deschelal ed-din Mohammed bin Izz ed-din Jusuf al-Hulwani eine Fatwa gegen die Yeziden und rief zum Kampf gegen sie auf. In Folge dessen wurden die Yeziden in und um Lalish, ihrem weltweiten Heiligtum, massakriert und versklavt. Das Heiligtum Lalish selbst wurde dabei verwüstet [Al-Maqrizi (1364 – 1442), nachzulesen bei Rudolf Frank, 1910, S. 87-91].
Im Jahr 1725 wurde der Krieg, sowie die Versklavung der Yeziden und die Schändung ihrer Frauen durch den islamischen Gelehrten Scheikh Abdullah ibn Sheikh Ahmad (1650 – 1746) religiös legitimiert. Auch im Jahr 1785 wurden diese Gräueltaten an Yeziden durch den islamischen Gelehrten Muhammad Amin ibn Kherallah al-Khatib al-Omari (1737 – 1789) in einer Fatwa legitimiert [al-Damluji ebd.].
Ziel der systematischen Verfolgung war und ist es, die yezidische Gemeinschaft auszurotten [Bayezid; 2011, S. 72], um eine homogene islamische Gesellschaft zu etablieren, wie es der IS derzeit tollwütig im Nahen Osten anstrebt. Im Iran kann es heute lebensbedrohlich sein, sich als Zoroastrier, Baha’i oder Yezide erkennen zu geben. Nicht einmal als Schriftbesitzer ist man im Iran sicher. Und so ist es der Iran, in dem heute keine oder nur noch wenige Yeziden im Geheimen leben. Eine islamische Theokratie, in der nicht-islamische Minderheiten systematisch verfolgt werden. Auch diese Wahrheit ignoriert Herr Hermann.
In der Türkei sind 99 % der Yeziden vertrieben worden, in Syrien flüchteten die Yeziden vor Terrorgruppen wie dem IS oder der Al-Nusra, wo heute nur noch wenige Hunderte verblieben sind. Im Irak ist vor wenigen Monaten ein Genozid an den Yeziden verübt worden, der mit dem weiteren Festhalten tausender Frauen, Kindern und Mädchen fortdauert.
Entlang machtpolitischer und teilweise ökonomischer Interessen ist und war gerade die religiöse Identität der Yeziden Hauptgrund ihrer Verfolgung. So werden den Yeziden bis heute auf staatlicher Ebene im Irak grundlegende Rechte verweigert, wie sich dies zuletzt bei den Parlamentswahlen zeigte. Selbst innerhalb der Autonomen Region Kurdistan existiert eine gesellschaftliche Stigmatisierung der Yeziden, die teilweise ihre Produkte nicht verkaufen können – ihrer religiösen Identität wegen. In jedem Gebiet, in dem der Islam als Religion die Staatsdoktrin bestimmt, gibt es Versuche der Marginalisierung der Yeziden. Fragt man nach den Gründen, offenbaren sich unmittelbar religiös motivierte, anti-yezidische Ressentiments.
Anders als Herr Hermann sind wir zudem nicht der Meinung, dass der IS die Muslime repräsentiert. Die Form des Islams, den der IS praktiziert, leugnet die über 1.200 Jahre alte Entwicklung der islamischen Exegese – von den Gelehrten in Bagdad über das historische Sham (Levante) bis nach Andalusien, wo Muslime mit Angehörigen der weiteren Weltreligionen Seite an Seite lebten und sich allein einen ideologischen Diskurs lieferten, ehe Radikale das Ruder übernahmen.
Würde auch die Verfolgung der Yeziden durch Terrorgruppen, wie Rainer Hermann es behauptet, den Islam repräsentieren, dann wäre es wenigstens die zweite systematische Verfolgung der Yeziden in der jüngeren Vergangenheit. Am 14. August 2007 attackierten islamistische Terroristen mit vier Selbstmordattentätern zwei yezidische Dörfer in Shingal und töteten, dem Irakischen Roten Kreuz zufolge, insgesamt 796 Yeziden und verletzten über 1.500, darunter zahlreiche Kinder. Weltweit wurde über den verheerenden Anschlag berichtet. Auch Jahre zuvor kam es bereits zu religiös motivierten Übergriffen auf Yeziden. Auch diese systematische Verfolgung verkennt Herr Hermann in seinem Artikel, was eine Beleidigung der Opfer darstellt. Kaum etwas ist für Opfer und deren Angehörige so schmerzlich, wie die Verleugnung begangener Massaker, ihrer Realität und letztlich der Tatmotive.
Der türkische Universitätsprofessor Ahmet Gökçen legt anhand osmanischer Archive in seinem Buch „Osmanlı ve İngiliz Arşiv Belgelerinde Yezidiler“ dar, dass Millionen von Yeziden wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit getötet und zwangsislamisiert wurden. Auch diesen Teil der Geschichte versucht der Islamwissenschaftler Hermann bewusst zu unterschlagen. Auf bloße Unkenntnis lässt sich seine Behauptung nicht zurückführen; so erhält man schon nach wenigen Klicks im Internet genügend Informationen. Dem Autor ist aber, unserer Meinung nach, keine zwingend böswillige Absicht zu unterstellen. Auf eine Kontaktierung per E-Mail hat jedoch bisher weder Herr Hermann noch die FAZ-Redaktion reagiert [Nachtrag: Die FAZ-Herausgeber haben den Leserbrief des ÊP-Chefredakteurs Hayrî Demir in der FAZ-Printausgabe vom 16. Januar 2015 abgedruckt].
Die schier unzählige Zahl der Vernichtungsfeldzüge gegen die Yeziden hat sich im kollektiven Gedächtnis der yezidischen Gemeinschaft als „72 Ferman“, ähnlich der Shoah bei den Juden, eingeprägt. Die mythologische Zahl 72 beschreibt dabei die Gesamtheit aller Massaker.
Dem Autor ist jedoch zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass der Koran nicht lediglich zu Gewalt aufruft, sondern von der absoluten Mehrheit der Muslime friedlich praktiziert wird. Auch in der Geschichte der Yeziden gab und gibt es positive Erfahrungen mit Muslimen. Die Menschen, die zehntausende Yeziden in Shingal das Leben gerettet haben und sie bis heute verteidigen, sind kurdische Muslime der Volksverteidigungseinheit YPG, der PKK und seit einigen Wochen auch die der Peshmerga.
© ÊzîdîPress-Redaktion, 10. Januar 2015