[S]hingal. Faris Khalil ist einer von über 4.000 êzîdîschen Kämpfern, die seit dem Beginn des Genozides der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an den Êzîden im Nordirak Widerstand leisten. Als die Terrorschergen am 3. August 2014 die Shingal-Region, das Hauptsiedlungsgebiet der êzîdîschen Minderheit im Irak, überrennen, greift der einfache Arbeiter zur Waffe und wird zum Widerstandskämpfer. Der 23-jährige Êzîde fällt mit seinem traditionellen Shingali-Hut, den er statt eines Schutzhelmes trägt, unter den Kämpfern auf. Stets an seiner Seite ist neben einem Maschinengewehr auch sein Hund, den er am 3. August retten konnte. Faris nennt ihn „Vater des Zornes”. Seitdem begleitet er seinen Herrn an der Front.
Faris gehört der Verteidigungskraft Shingals (HPŞ) an, einer êzîdîschen Bürgerwehr mit rund 3.200 Kämpfern, die sich nach dem Angriff der Terroristen unter dem Oberbefehl von Heydar Shesho formiert hat. Heute kämpft Faris in der Einheit von Kasim Shivan (K.S.) an einer der gefährlichsten Stellungen der HPŞ-Kämpfer in Solakh, südwestlich des Shingal-Gebirges. Monatelang versuchte der IS die strategisch bedeutende Region einzunehmen und in das Gebirge vorzudringen. Die 350 bis 400 Mann starke K.S.-HPŞ hat dutzende Männer verloren, Freunde von Faris. Er hat ÊzîdîPress von seinen Erlebnissen und dem Werdegang zum Widerstandskämpfer erzählt.
„Am 3. August begann Daesh [arabisches Akronym für ISIS] mit den Angriffen im Süden von Shingal, auf wichtige Grenzorte wie Krzyk, die Gemeinde Siba Sheikh Khidir, Til Qeseb, Til Ezer und Kocho. Die jungen Männer griffen zu ihren Waffen – leichte Kalaschnikows – und positionierten sich an den Grenzen dieser Gebiete, um ihre Dörfer und Gemeinden zu verteidigen.“
Auch Faris und sein Freund Falah werden in der Nacht von besorgten Dorfbewohnern geweckt und eilen in den Süden, um den Vormarsch der IS-Terrormiliz zu stoppen.
„Die Peshmerga entwaffneten die Êzîden mit dem Versprechen, sie bis zum letzten Atemzug zu beschützen. Am Morgen des 3. August, als Daesh gegen 2 Uhr nach Mitternacht Shingal angriff, begannen schwere Kämpfe zwischen den Êzîden und den Terroristen, die über vier Stunden andauerten. Unsere Munition ging aus. Die Peshmerga flüchteten zu diesem Zeitpunkt bereits nach Kurdistan, ohne dass wir davon Kenntnis hatten. Sie hatten versprochen, uns zur Hilfe zu kommen, aber sie waren längst weg. Viele unserer Männer und Jungen starben an diesem Tag.“
Dann geht alles ganz schnell, zu schnell für die Familie von Faris und tausende andere Êzîden, die an diesem Tag getötet und entführt werden. Die IS-Schergen brechen den êzîdîschen Widerstand und stürmen die Dörfer und Gemeinden, vertreiben Zehntausende in das Shingal-Gebirge, entführen bis zu 7.000 Frauen und Kinder. Faris und sein Freund Falah eilen zurück, um ihre Familien in das Shingal-Gebirge zu bringen. Doch sie kommen zu spät.
„Wir rannten los und wollten zu unserem Dorf nahe Shingal-Stadt, um unsere Familien zu retten. Aber Daesh hatte die Stadt bereits gestürmt, weil die Peshmerga dort ohne Widerstand geflohen waren. Falah und ich mussten aus der Ferne zusehen, wie sie unsere Familien massakrierten. Wie die Terroristen die Männer töteten, Frauen und Kinder mit sich nahmen und Mädchen zwangen, den Islam anzunehmen. Wir flüchteten wie viele andere in das Gebirge, ohne Nahrung und Wasser“
Im Gebirge finden sich êzîdîsche Freiwillige zusammen und bilden bewaffnete Einheiten, um ein Vordringen der IS-Terroristen in das Gebirge zu verhindern. Über Nacht wurde Faris zum Widerstandskämpfer, erzählt er. Die Gefahr ist aber noch längst nicht vorbei. Während die Terrormiliz weiter gen Norden marschiert und die 70km breite Gebirgskette belagert, lauert im Gebirge bereits Durst und Hunger.
Kämpfer K.S.-HPŞ, darunter auch Faris, attackieren eine Stellung der IS-Terroristen in Solakh
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„Mein Freund Falah und ich mussten mitansehen, wie sie unsere Familien töteten, unsere Kinder, Frauen und Greise im Shingal-Gebirge vor Durst und Hunger schrien. Einige von ihnen sind vor unseren Augen gestorben. Die Kinder schrien vor Hunger; hätte ich damals alles auf einer Kamera festgehalten, hätte man die Hölle auf Erden sehen können.“
Der 23-Jährige beschließt, sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen und die ins Gebirge geflüchteten Zivilisten zu verteidigen.
„Falah und ich beschlossen, uns dem bewaffneten Widerstand anzuschließen, um den Rest der Flüchtlinge, unsere Religion, unsere Heimat und unsere Ehre zu verteidigen, die Daesh mit Füßen getreten hat. Niemand hat uns verteidigt oder beschützt, die Peshmerga haben uns verraten und sind davongerannt, statt ihre Pflicht zu erfüllen. Deswegen müssen wir selbst für unsere Sicherheit sorgen.“
Shingal gilt seither als Halsschlagader der êzîdîschen Kultur und ist das Symbol des êzîdischen Widerstandes, die auf eine lange Geschichte zurückblickt. Im Jahr 1254, als der muslimische Stadthalter von Mosul Badr ad-Din Lulu, der bereits zuvor im Jahr 1246 die Êzîden in und um Lalish massakrierte, die Êzîden erneut angriff, mobilisierte Sheikh Sherfedin im Shingal-Gebirge die Êzîden und organisierte erfolgreich den Widerstand. Heute wird er von den Êzîden als Heiliger verehrt. Ihm zu Ehren wurde vor Rund 750 Jahren am nordöstlichen Hang des Shingal-Gebirges die Sherfedin-Heiligstätte errichtet. Jene Heiligstätte, die von den êzîdischen Widerstandskämpfern monatelang vor der Zerstörungswut der IS-Terrormiliz erfolgreich verteidigt wurde und heute ihr Hauptquartier ist. 1893 scheiterte Omar Wahbi Pasha, ein kurdischer General der Osmanischen Armee, bei dem Versuch die Shingal-Region unter seine Kontrolle zu bringen. Ab dem Jahr 1915 nahmen die Êzîden im Gebirge Zehntausende Christen auf, die vor dem Völkermord nach Shingal flüchteten. Die Êzîden hielten dem folgenden Angriff der Osmanen stand und konnten die Menschen retten.
Mit der K.S.-HPŞ kämpft Faris seit über neun Monaten im Südwesten des Shingal-Gebirges.
„Sie drückten uns Kalaschnikows in die Hand und schon waren wir, ohne irgendwelche Erfahrung, Kämpfer. Wir kämpfen seit über neun Monaten im Süden des Shingal-Gebirges, an einem strategisch wichtigen Teil der Region Solakhs. Dutzende aus unseren Reihen sind bereits im Kampf gegen Daesh gefallen. In dieser Zeit und auch heute unterstützt uns niemand, weder mit modernen Waffen, noch sonst.“
Immer dabei an der Front ist auch sein Hund „Vater des Zornes“.
„Der Hund ist seit dem Beginn der Ereignisse bei uns. Ich hab ihn mitgenommen, er ist treu und verrät uns nicht. Er kann Verräter und die Daesh-Terroristen riechen. Ich habe ihn „Vater des Zornes“ genannt, weil auch er all die Gräuel miterleben musste und jetzt an meiner Seite gegen Daesh kämpft.”
Der traditionelle Hut soll ihn an all die êzîdîschen Männer, vor allem Greise, erinnern, die getötet wurden sagt Faris. Der Hut steht auch für die Geschichte der Shingal-Region, für die Identität der Êzîden, die der Gottesstaat des IS vernichten möchte. Faris hält sie am Leben und kämpft mit eben dem Symbol gegen die Terroristen. Im Überlebenskampf der heute weniger als eine Millionen zählenden Volksgemeinschaft.
In seiner Geschichte war die Shingal-Region immer Ziel fanatischer Radikaler, die um jeden Preis das Volk der Êzîden vernichtet sehen wollten. In einem sakralen Text der Êzîden heißt es, dass im Verteidigungskampf der Wille zählt. Junge Männer wie Faris und Kommandeur Kasim Shivan waren und sind es, die die Existenz der Êzîden verteidigen. Mit schlechter Bewaffnung, aber großem Kampfeswillen. Heute wie damals.
© ÊzîdîPress, 18. Mai 2015