von Rahmet Yelken
Anlässlich des von der PKK ausgerufenen „internationalen Aktionstags für Solidarität mit Kobani“ fanden gestern in allen deutschen Großstädten Solidaritätsdemonstration mit der Bevölkerung und KämpferInnen in Kobani und Shengal statt. Nahezu alle kurdischen Organisationen und Einrichtungen hatten zum Protest aufgerufen. Dennoch blieb vielerorts die TeilnehmerInnenzahl hinter den Erwartungen. Seit Monaten gehen die KurdInnen und EzidInnen in regelmäßigen Abständen auf die Straße, um gegen die barbarischen Mörderbanden des IS/Daesh zu protestieren. Und wer hätte es gedacht? Die Demonstrationen finden selbst über linken Kreisen hinweg, traditionelle Verbündeten der kurdischen Sozialisten, ein empathisches Echo. Dies wird in naher Zukunft die innere und äußere Wahrnehmung der kurdischen Bewegung sichtbar verändern: Die Kurdinnen entdecken die Solidarität untereinander, sind bestimmt selbstbewusst und sich ihrer Geschichte und aktuellen Lage sehr wohl bewusst. Das ist auch gut so.
Jede politische Kultur hat eine Kernproblematik, die für den eigenen Fortbestand als bedrohlich eingestuft wird. In der kurdischen Politkultur, seit Jahrzehnten die dominierende Kulturform in Kurdistan, ist es der Mangel an Einheit und Zusammenhalt der KurdInnen als Volk. Dies machte sie bisher besonders vulnerabel. In der Vergangenheit stocherten alle in dieser offenen Wunde. Schon immer wussten die PolitikerInnen in den orientalischen Machtzentren, dass sie auf der Suche nach Verbündeten gegen den Widerstand in Kurdistan aus den internen Streitigkeiten der KurdInnen eine immanente Gegenkraft formieren können. Die iranischen Safawiden und kurdischstämmige Zand-Prinzen setzen in ihrem Kampf gegen die rebellierenden sunnitische Stämme bewusst auf die schiitischen Kurden. Eine organisierte Welle an Aufständen der kurdischen Fürsten im 19. Jahrhundert konnten die Osmanen mithilfe der rivalisierenden KurdInnen niederschlagen. So zögerten der Irak, Iran und die Türkei nicht lange in den 1980er und 1990er Jahren, um kurdische Stammesangehörige für paramilitärische Einheiten im Kampf gegen die Aufständischen zu rekrutieren.
Doch das Bedürfnis nach Einheit war fast immer größer, da – gestern wie heute – viel davon abhing. Nur so konnte sich der Widerstand in Kurdistan gegen die Repressalien ausweiten, alle Schichten und Interessengruppen allmählich in ihre Bahn ziehen. Auch bevor die gegenwärtig unüberwindbar anmutenden Trennlinien der kurdischen Gesellschaft in Form von verminten Grenzen, systematische Assimilierungsprojekte und Deportationen zementiert wurden. Im Frühstadium der modernen Türkei hat es ein kategorisches Exempel gegeben, das beim Entschlüsseln der Gegenwart aufschlussreich sein könnte. Im Jahr 1930 rebellierten die KurdInnen zum zweiten Mal in der Türkei, der Schauplatz war das Gebiet um den Ararat. Die Aufständischen fügen anfänglich der türkischen Armee schwere Verluste zu. Daraufhin plant die Regierung Truppen aus der Grenzregion zum Irak, in die Konfliktregion zu verlegen. Doch es kommt ganz anders: iranische und irakische KurdInnen greifen auf Befehl von Scheich Ahmed Barzani, einem Onkel des heutigen Präsidenten der autonomen kurdischen Region im Irak, Mesud Barzani, das Grenzbataillon in der Provinz Hakkâri an, um die Soldaten zu hindern Richtung Ararat zu ziehen.
Auch heute eilen irakische, iranische KurdInnen Rojava und Shengal im Kampf gegen IS/Daesh zu Hilfe. Dieser einzigartige Vorgang resultiert zuletzt auch von dem o.e. Bedürfnis der KurdInnen nach Solidarität untereinander. Diesem Bedürfnis musste sich auch die Türkei beugen. Denn sie ließ, selbstverständlich mit einem eigenen Kalkül, Peshmerga-Kämpfer über ihr Territorium nach Kobanî ziehen. Die 150 Peshmerga, die nach wochenlangem Tauziehen die Türkei überquerten und am Freitag in Kobanî eintrafen, sollen nach zweifelhaften Angaben der Medien nicht einmal in Kämpfen verwickelt werden. Doch sie bringen panzerbrechende Waffen und Munition mit, die für die Verteidiger der Stadt überlebensnotwendig sind. Noch wichtiger ist jedoch die damit verbundene Symbolik. Die KurdInnen können erstmals in ihrer Geschichte der ganzen Welt zeigen, dass sie in diesen schrecklichen Zeiten füreinander da sind.
Dieser Prozess könnte der kurdischen Bewegung eine neue Stärke verleihen und ihr mehr Selbstbewusstsein verschaffen. Das Ausbleiben der kurdischen Einheit tagtäglich zu bejammern ist eine Sache, nun kommt es darauf an, die spürbare gesellschaftliche Dynamik zu erkennen und richtig zu kanalisieren. Denn eins steht fest. Die Einheit der Völker ist keine Frage der Grenzen, Mauern oder kulturellen Gemeinsamkeiten, sondern das Ergebnis von historisch mühsamen Solidaritätsakten von Menschen, die sich dadurch der Freiheit und Gleichheit würdig erweisen können. Solidarität ist die Praxis von Einheit und Frieden der Völker. Wem es also an der kurdischen Einheit gelegen ist, die/der kommt nicht herum sich gleichermaßen mit Shengal und Kobanî zu solidarisieren.