Jerewan. Mit einem neuen Gesetzentwurf soll das armenische Parlament den Völkermord an den Êzîden durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) anerkennen. Es ist ein erneuter Anlauf, nachdem vorherige Bemühungen teils skandalös gescheitert sind. Was für das Europäische Parlament, den UN-Menschenrechtsausschuss sowie für die US-Regierung, das britische, französische, schottische und viele weitere Parlamente eine reine Formsache war, droht in Armenien zu einem Politikum zu werden. Für das armenische Parlament geht es dabei um viel mehr als nur die Anerkennung des Genozids an den Êzîden. Die Glaubwürdigkeit einer Nation, die selbst seit Jahrzehnten um Anerkennung eines Völkermordes kämpft, steht auf dem Spiel – und auch die Freundschaft zweier Völker.
Als der êzîdîsche Jurist Rustam Makhmudyan als erster Vertreter der Êzîden seit der Verfassungsänderung 2015 in das armenische Parlament einzieht, verspricht er, sich für die Anerkennung des Völkermordes an den Êzîden einzusetzen. Auch, weil Makhmudyan sich der Wut der Êzîden bewusst ist, den sie erstmals in dieser Form öffentlich kundgetan haben. Zuvor lehnte die armenische Nationalversammlung einen Antrag auf „Anerkennung des Völkermords“, so im Gesetzesentwurf, ab. Der damalige Präsident der Nationalversammlung, Galust Sahakyan, sagte, er könne keinen Völkermord an den Êzîden erkennen. Verschiedene Parlamentsabgeordnete, darunter Artak Zakaryan (RPA) und der frühere Außenminister Alexander Arzumanyan, forderten, das Wort „Völkermord“ durch „Massaker“ zu ersetzen. Der Antrag wurde letztlich gänzlich abgelehnt. Der armenische Parlamentabgeordnete Gurgen Arsenyan sagte, dass man die Zahl von 3.000 getöteten Êzîden „keinen Völkermord nennen könne“.
Makhmudyan sowie weitere Parteifreunde der regierenden Republikanischen Partei Armeniens (RPA), darunter der für Auswärtige Angelegenheiten zuständige Armen Ashotyan und der RPA-Fraktionsvorsitzende im Parlament Vahram Baghdasaryan, haben nun einen neuen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht. Der Entwurf sei im Rahmen einer behördlichen Anordnung ausgearbeitet worden. Doch auch der ist nicht unproblematisch formuliert, wie der russisch-êzîdîsche Strafrechtsexperte Prof. Samvel Kochoi gegenüber ÊzîdîPress erklärt. Kochoi lehrt am Lehrstuhl für Strafrecht an der Staatlichen Moskauer Universität und gilt als Experte auf den Gebieten Terrorismus und Völkermordverbrechen.
Im neuen Gesetzesentwurf sei der Begriff „Völkermord“ durch „völkermordähnliche Verbrechen“ ersetzt worden. Dies sei, so Kochoi, eine ungenaue Beschreibung, um dem völkerrechtlich klar umfassten Begriff des Völkermord auszuweichen. „Völkermordähnliche Verbrechen sind zwar Teil des Völkermordkonzepts, erfüllen aber nicht den Tatbestand des Völkermordes als solchen. Bei der Vergangenheit der Êzîden wäre es angebracht, eine solche Umschreibung zu verwenden. Im Fall von Shingal aber handelt es sich um einen klassischen Völkermord, der alle Tatbestände des Völkermordes erfüllt“, fasst Kochoi zusammen.
Nicht wenige der êzîdîschen Gemeinschaft in Armenien, immerhin die größte Minderheit des Landes, sehen im Verhalten des armenischen Parlamentes eine Doppelmoral. Während Armenien zu Recht um die Anerkennung des Völkermordes von 1915 kämpft, verweigert sein Parlament, den gegenwärtigen Völkermord an den mit den Armeniern befreundeten Êzîden anzuerkennen. Zwar haben sich vereinzelt armenische Politiker klar gegen den Völkermord an den Êzîden in der Öffentlichkeit geäußert, doch den Worten seien keine Taten gefolgt.
Seit dem Beginn des anhaltenden Völkermords an den Êzîden in Shingal am 3. August 2014 sind über drei Jahre vergangen, in denen zahlreiche westliche Staaten den Völkermord anerkannt haben. Die UN-Ermittler sprachen von einem eindeutigen Völkermord des IS, deren Ziel es sei, die „Jesiden als Gruppe zu vernichten„. Ausgerechnet Armenien wehrt sich bisher gegen eine klare Stellungnahme durch einen parlamentarischen Beschluss.
Etwa 10.000 Êzîden aus Shingal fielen dem Völkermord direkt zum Opfer, wie eine erste Studie der renommierten Londoner LSE Universität zeigt. Rund 2,2% der êzîdîschen Bevölkerung wurden der Studie nach getötet oder verschleppt. 400.000 weitere mussten aus ihrer Heimat fliehen. Von den etwa 7.000 verschleppten Frauen und Kindern befinden sich weiterhin schätzungsweise 2.500 bis 3.000 in IS-Gefangenschaft.
© ÊzîdîPress, 10. Dezember 2017