Êzîdîsche Widerstandskämpfer im frühen 20. Jahrhundert (Nelida Fuccaro)
Êzîdîsche Widerstandskämpfer im frühen 20. Jahrhundert (Nelida Fuccaro)


Seit Jahrhunderten kämpft die êzîdîsche Gemeinschaft in Mesopotamien um ihre Existenz. Kein Jahrhundert verging ohne einen Vernichtungsfeldzug radikaler Extremisten gegen die indigene Volksgruppe im Nahen Osten. Als nicht-muslimische Gruppe mussten sich die Êzîden in ihrem Überlebenskampf gegen schier übermächtige Feinde behaupten. Die unzähligen Kriege und Schlachten dezimierten die Zahl der Êzîden drastisch, stärkte aber zugleich den Überlebenswillen. Auch in diesem Jahrhundert wurde erneut ein Genozid an den Êzîden im Irak verübt. Die Beispiele der Vergangenheit zeigen jedoch, dass die Êzîden allen Widrigkeiten zum Trotz um ihr Bestehen und ihr Erbe kämpften. So auch vor 230 Jahren in der Schlacht von Semel.

Wir schreiben das Jahr 1785 und befinden uns nur wenige Kilometer von der kurdischen Stadt Duhok im heutigen Nordirak entfernt. Hier herrschte der einst große und mächtige êzîdische Stamm der „Dina“. Als erster Europäer berichtete der deutsche Forscher Carsten Niebuhr (1733 – 1815) über den Großstamm. Auch heute noch gehören die Dina zu den größten êzîdîschen Stämmen und sind wegen ihre rebellische Ader gefürchtet.

Etwa 73 km von Semile entfernt, in Mosul, plant der muslimische Gouverneur von Mosul, Abd al-Baqi Pascha mit seinen Truppen einen Feldzug gegen die Êzîden der Dina. Im selben Jahr wurde vom islamischen Gelehrten Muhammad Amin ibn Kherallah al-Khatib al-Omari (1737 – 1789) eine Fatwa – religiöses Gutachten – gegen die Êzîden erlassen, die die Tötung und Verfolgung der Êzîden sowie die Schändung und Versklavung êzîdischer Frauen und Kinder religiös legitimierte.

Zu jener Zeit führte ein junger Mann als Stammesoberhaupt die Dina, der wenig später als Held in die êzîdischen Geschichte eingehen sollte. Sein Name: Kor Namir Agha. Da er in seiner Kindheit auf einem Auge erblindete, wurde er Kor Namir – der blinde Namir – genannt. Die Dina waren ein Nomadenstamm und immer wiederkehrende Kriege gegen die muslimischen Herrscher gewohnt. Wie ihre Glaubensgeschwister in Shingal haben sich die Dina stets geweigert, sich den Gouverneuren von Mosul zu beugen. Dieser rebellische Geist der Êzîden auf dem Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reichs wurde schnell von den europäischen Reisenden bemerkt, weshalb sie das êzîdische Fürstentum Sheikhan mit Shingal als ein „Staat im Staate“ beschrieben.

Abd al-Baqi Pascha näherte sich in Begleitung seines Bruders und seine Truppen dem Gebiet der Dina. Doch ihre Dörfer waren allesamt verlassen, die Dina, die über den Anmarsch des Paschas informiert wurden, waren geflüchtet und ließen ihr Hab und Gut ohne Gegenwehr zurück. Triumphal plünderten die Soldaten des Paschas die Häuser der Dina, Abd al-Baqi selbst trifft mit seinem Bruder in einem der Dörfer ein und feiert den vermeintlichen Sieg gegen die Êzîden. Was der Pascha und seine Truppen jedoch nicht ahnten: auf den Hügeln und Bergen in der Nähe der Dörfer mobilisiert Kor Namir Agha die wütenden Êzîden und bereitet den Gegenangriff auf den Pascha vor.

Die übermütigen und vom vermeintlichen Sieg gegen die „gottlosen Êzîden“ berauschten Soldaten des Paschas und der Pascha selbst vernachlässigten die Vorsicht, was sich die Kämpfer der Êzîden zunutze machten: Namir Agha führt mit einigen seiner Kämpfer einen Überraschungsangriff auf al-Baqi Pascha aus und töten ihn, seine Leibwächter sowie seinen Bruder.

Die in Panik geratenen Soldaten des Paschas, die kurz zuvor noch im Siegesrausch waren, wurden von den Êzîden überrannt und zu Hunderten getötet. Die demoralisierten Truppen des getöteten Paschas waren den Êzîden unterlegen. Die Soldaten des Paschas ergriffen dann die Flucht. Doch auch sie fanden keine Ruhe vor den nach Rache sehnenden Êzîden: Die Kämpfer Namir Aghas verfolgten die flüchtenden Soldaten bis in das  73 km entfernte Mosul. Über den weiteren Verlauf der Schlacht ist ab hier nichts mehr überliefert. Die Truppen der Dina kehrten jedoch fast ohne Verluste zurück.

Die Dina verließen Semel später. Heute leben viele Assyrer in Semel. In Secê, einem assyrischen Dorf in Semel, haben die assyrischen Bewohner tausende êzîdîsche Flüchtlinge aus Shingal aufgenommen.

© ÊzîdîPress, 10. August 2015