Pêşmerga Sicherheitskräfte bewachen einen Flüchtlingszug von Ninawa in die Regionen der KRG | by Press TV
Pêşmerga Sicherheitskräfte bewachen einen Flüchtlingszug von Ninawa in die Regionen der KRG | by Press TV

Shingal (Irak) – Eine Terrorgruppe überrollt einen Staat und übernimmt die Kontrolle über eine Metropole. Sie hisst ihre schwarze Flagge, die der einer mittelalterlicher Piratenbande gleicht, über die zweitgrößte Stadt des Landes. Und das innerhalb weniger Tage. Was klingt wie ein Hollywood-Drehbuch ist im Irak traurige Realität. Radikale Islamisten der Gruppe Islamischer Staat Irak und Syrien (ISIS) erobern immer mehr Stadtteile und massakrieren die nicht-sunnitische Bevölkerung und irakische Armeeangehörige. Ihr Ziel ist die Hauptstadt Bagdad, wo der verhasste schiitische Ministerpräsident Al-Maliki regiert. Zwar konnte die irakische Armee durch ein massives Aufgebot an Infanterie und mit dem Einsatz von F-16 Kampfjets den Ansturm der ISIS Terroristen gen Bagdad verlangsamen, doch es gelingt ihr nicht in dem Konflikt die Oberhand zu erringen. Tausende irakische Soldaten sind aus den umkämpften Gebieten geflüchtet, desertiert oder hingerichtet worden. Ihre Ausrüstung samt Militärmaterial haben sie zurückgelassen und damit die ISIS stärker gemacht. Die ISIS stürmt Gefängnisse und lässt tausende Insassen an ihrer Seite kämpfen.

Die Rache der Baathisten
Izzet Ibrahim al Duri
Izzet Ibrahim al Duri

Auch die mächtige irakische Untergrundorganisation des ehemaligen Saddam Hussein Weggefährten, Izzet Ibrahim al Duri, kämpft auf Seiten der ISIS. Es ist die Rache für den Sturz des Regimes, das 2003 durch die US-Invasion gestürzt wurde und eine von den USA gestützte schiitische Regierung den Staat übernommen hat. Der Konflikt ist damit nicht nur ein Konfessionskrieg, der von der ISIS geführt wird, sondern die Folge des katastrophalen Misserfolges der US-Administration im Irak und die Rache jener Gruppe, die nie ganz zerschlagen werden konnte: Die Baathisten. Paradoxerweise wird auch dem syrischen Präsidenten Assad, Generalsekretär der syrischen Baath-Partei, die Unterstützung der ISIS vorgeworfen, gegen die er in Syrien aber um die Macht ringt. Doch Assads Plan könnte aufgehen: er zerstört die ISIS, indem er sie protegiert. Auch arabische Stämme des Iraks unterstützen die ISIS, während sich vor allem Schiiten im Süden zum freiwilligen Dienst an der Waffe melden, um gegen die ISIS zu kämpfen. Die Lage droht eine neue Dimension des irakischen Bürgerkrieges hervorzurufen, der jahrelang anhalten wird.

Die USA haben bereits signalisiert, dass sie eine weitere Machtergreifung der ISIS im Irak nicht dulden wird und hat seine Kriegsflotte im Golf in Stellung gebracht. Auch die Unterstützung des schiitischen Irans für Maliki ist sicher. Und selbst Saudi-Arabien, aus dessen Reihen Finanziers der ISIS stammen sollen, wird die außer Kontrolle geratene ISIS zu mächtig.

Unterdessen hat der irakische Ministerpräsident Al-Maliki mehrere ranghohe Generäle der irakischen Streitkräfte wegen Versagens abberufen. Nun bereitet die irakische Armee eine Großoffensive für Mosul vor, um die zweitgrößte Stadt des Iraks wieder unter die Kontrolle der Regierungskräfte zu bringen. Solche Ankündigungen gab es allerdings in den letzten Tagen des Öfteren, ohne dass die irakische Armee wesentliche Erfolge verbuchen konnte.

Durch Chaos auseinandergerissen, durch Chaos wieder vereint: Kurdistans Chance
Pêşmerga Kräfte nehmen ISIS Terroristen fest | AFP
Pêşmerga Kräfte nehmen ISIS Terroristen fest | AFP

In den Gebieten der Autonomen Region Kurdistans im Nordirak hingegen ist die Lage weitestgehend ruhig. Nur die Flüchtlingsströme lassen den Konflikt deutlich werden. Die gut organisierte und schlagkräftige Pêşmerga Armee der Kurden sichert nicht nur die derzeit geltenden Grenzen der kurdischen Autonomieregion, sondern ist auch in die anliegenden, von Kurden dominierten und bisher umstrittenen Gebiete einmarschiert. So etwa in weite Teile der Provinz Ninawa, hier vor allem die Region Shingal, als auch in kurdisch dominierte Teile Kerkuks. Die ISIS, die sich bisher scheute gegen die ihr überlegene kurdischen Armee vorzugehen, griff jedoch in den vergangenen Tagen Stellungen der Pêşmerga Armee nahe Kerkuk und andernorts an, werden aber immer wieder vernichtend geschlagen. In einem Interview der BBC mit dem kurdischen Ministerpräsidenten Neçirvan Barzanî erklärte dieser, dass die kurdische Regierung und ihre Pêşmerga Armee nicht die Aufgabe habe, die Einheit des Irakes zu erhalten, sondern die Grenzen der Autonomieregion und die kurdische Bevölkerung zu schützen. Weiterhin erklärte N. Barzanî, dass der Irak auch nach dem Ende des Konfliktes nicht wieder zur Normalität zurückkehren wird. Sicher ist, dass die Pêşmerga Armee aus den von ihr besetzten umstrittenen Gebieten in Ninawa und Kerkuk nicht wieder abziehen wird, erklärte das Ministerium für Angelegenheiten der Pêşmerga.

Für die umstrittenen Gebiete ist seit der Konstituierung der irakischen Verfassung von 2005 ein Referendum geplant, bei der die Bevölkerung über die Zugehörigkeit ihrer Region entscheiden sollte. Der entsprechende Art. 140 und seine Ratifizierung wurde jedoch von der irakischen Zentralregierung immer wieder verschoben. Die Pêşmerga hat nun die Kontrolle über diese Gebiete übernommen, nachdem die irakische Armee geflüchtet und ein Sicherheitsvakuum hinterlassen hat. Irakische Staatsflaggen wurden durch kurdische ersetzt.

Kurdistan
Kurdistan

Es ist die große Chance für Kurden, ihre gänzliche Unabhängigkeit auszurufen. Durch den Vertrag von Lausanne 1923 hintergangen und ins Chaos getrieben, scheint das neue Chaos im Irak und auch in Syrien nun die Chance der Kurden zu sein, ihren eigenen Staat auszurufen. Der irakischen Führung fehlen derzeit die Ressourcen, um eine Abspaltung vom Zentralstaat zu verhindern. Die seit Monaten anhaltenden Streitigkeiten über den Erlös der Öl-Verkäufe hatte die Beziehungen weiter schwer belastet. Immer wieder forderten kurdische Politiker eine Abspaltung vom Irak. Auch der kurdische Ministerpräsident Neçirvan Barzanî erklärte im Interview mit der BBC, dass eine Teilung des Iraks fast unumgänglich ist, um den Konflikt zu lösen. Militärisch wird dieser nämlich nicht beigelegt werden können. Eine Dreiteilung des Iraks steht bevor.

Auch in Syrien kontrolliert die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG aufgrund des Krieges in Syrien die kurdischen Regionen im Norden des Landes und hat bereits eine Demokratische Autonomie ausgerufen. Ihre Sicherheit wird jedoch weiterhin von den Terroristen der ISIS bedroht, die immer wieder schwere Angriffe auf die Kurden verübt. Eine Zusammenarbeit der YPG mit den Pêşmerga sowohl in den südkurdischen (Nordirak) und westkurdischen (Nord-Syrien) Regionen könnte jedoch dauerhaft zu einer Stabilisierung der kurdischen Gebiete führen. Der Oberkommandant der Guerilla, als dessen Ableger die YPG in Syrien gilt, hat mehrfach die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bekanntgegeben, die sich bisher aber auf die bedrohten südkurdischen Regionen bezieht.

„Shingal ist sicher“

Nachdem Extremisten der ISIS die strategisch wichtige Stadt Tal Afar weitestgehend eingenommen haben, drohten sie zum wiederholten Mal mit einem Ansturm auf die hauptsächlich von Êzîden bewohnte syrisch-irakische Grenzregion Shingal im Norden des Landes. In Shingal leben schätzungsweise 500.000 Êzîden, die in der Vergangenheit immer wieder Opfer von Terrorakten der ISIS und ihrer Sympathisanten geworden sind. Besonders gefährdet ist die Region deshalb, weil sie inmitten der Versorgungslinie der Islamisten der ISIS von Mosul aus nach Syrien liegt, wohin die Islamisten ihr erbeutetes irakisches Kriegsmaterial transportieren. Die Mehrzahl der 200.000 großen Bevölkerung Tal Afars ist nach Shingal geflüchtet, denen Êzîden und kurdische Pêşmerga Einheiten Zuflucht gewähren.

Für Shingal und die Êzîden könnte der Konflikt jedoch nachhaltige Sicherheit bringen: tausende Pêşmerga der kurdischen Autonomieregion sind in Shingal einmarschiert, nachdem die irakischen Streitkräfte mit Beginn des ISIS-Konfliktes geflüchtet sind. Auch in Shingal ist ein Abzug der Pêşmerga nicht geplant. In Shingal sollen über 10.000 Pêşmerga stationiert sein, die auch die Grenzen, wie etwa nach Mosul, schützen.

Einmarsch der Pêşmerga Truppen in Shingal | ©ÊzîdîPress
Einmarsch der Pêşmerga Truppen in Shingal | ©ÊzîdîPress

„Wir fühlen uns sicher. Tausende Pêşmerga sind in Shingal stationiert, die Shingal und die Menschen hier beschützen. Deshalb kommen auch die Flüchtlinge aus Mosul und Tal Afar nach Shingal, wir versuchen ihnen so gut es geht zu helfen“, erklärt ein Bewohner Khanasors gegenüber êzîdîPress. Auch der êzîdîsche Politiker Kheri Shingalî erklärt, dass die Situation der Êzîden in Shingal stabil ist. Auch lobt er die Versorgung der Flüchtlinge durch die kurdische Autonomieregierung.

„In Rabia ist auf der irakischen Seite die Pêşmerga, auf der syrischen Seite die YPG“, so ein weiterer Bewohner Shingals. Aus Rabia sind vor wenigen Wochen noch über 4.000 Êzîden geflüchtet, nachdem radikale Islamisten mehrere Êzîden getötet und Morddrohungen ausgesprochen hatten. Nun haben Pêşmerga und YPG Einheiten die Grenzstadt von den Islamisten befreit und kontrollieren auch die Grenzübergänge.

êzîdîPress, 18.06.2014