Flüchtlinge in Kurdistan
Flüchtlinge in Kurdistan

Reisebericht von Prof. Dr. med. Hüseyin Bektas (vom Verein „Kurdische Ärzte in Deutschland“) über die Aktivitäten der letzten sechs Tage, 24.08.2014

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freunde,

nach sechs Tagen Einsatz wollte ich mich bei Ihnen melden und über die Lage und unseren Aktivitäten kurz berichten:

Es leben zurzeit hier in der Region Kurdistan im Irak etwa 2 Millionen Flüchtlinge bei 4,5-5 Millionen Einwohnern (aktuelle Zahlen von Heute). In der Provinz Dohuk leben laut Informationen vom heutigen Tag von dem Direktor des Amtes für Gesundheit etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge bei einer Einwohnerzahl von insgesamt eine Millionen Menschen.

Alleine in den letzten zwei Wochen sind wohl etwa 630.000 Flüchtlinge gekommen. Das sind hauptsächlich yezidische Flüchtlinge aus Shingal. In der ersten Woche haben die meisten dieser Menschen irgendwo im Freien gehaust. Die Flüchtlinge haben nichts. Sie haben alles zurückgelassen und sind mit dem was sie in dem Moment am Körper hatten mitten in der Nacht geflüchtet. Etwa 90% der 630.000 Flüchtlinge von den letzten 14 Tagen sind mittlerweile in Schulen, Sportstadien oder Camps untergebracht. Nur noch wenige leben in den sog. “wilden Camps”. Das sind Camps, die von den Flüchtlingen selbst auf irgend einen freien Platz errichtet sind. In den nächsten 4-5 Tagen werden vier neue Flüchtlingscamps mit jeweils für etwa 15.000 – 20.000 Menschen auch fertiggebaut sein. Die kurdische Regionalregierung tut alles erdenkliche um dieser Masse an Menschen zu helfen. Sie teilen mit den Flüchtlingen alles, was sie haben. Die bekommen seit Jahren wohl keinen Cent von dem vereinbarten Budgetanteil und keine Unterstützung von der irakischen Zentralregierung. Sie versuchen sich durch die wenigen Einnahmen, die das Land durch den Zoll hat, über das Wasser zu halten.

Das mittel- oder langfristige Problem wird sein, diese Menschen mit allem lebensnotwendigen zu versorgen und denen eine Zukunftsperspektive zu geben. Die haben grausames erlebt. Die stehen nun hier in dem Flüchtlingscamps ohne eine Hoffnung und wissen nicht, ob sie jeweils zurückkehren können. Auch wenn deren Land von dem IS befreit wird, wissen sie nicht, was die Zukunft bringt. Die glauben nicht, dass man sie langfristig in Ruhe und Frieden leben lässt. Die Angreifer waren in erster Linie die Bewohner der benachbarten Dörfer.

Nach unserem Abflug aus Deutschland sind wir in der Nacht auf Dienstag in Diyarbakir in der Türkei angekommen. In der Gruppe aus Hannover waren neben drei Ärzten auch drei Mitarbeiter des Fernsehteams von ZDF und der Vorsitzender des Zentralrates der Yeziden in Deutschland Herr Telim Tolan. In Diyarbakir waren bereits vier weitere Ärzte aus Deutschland und eine Ärztin aus England anwesend.

Wir erfuhren, dass etwa 1000 Flüchtlinge auch in Diyarbakir angekommen sind. Diese wurden in vier Camps in Schulen bzw. Sporthallen untergebracht. Bereits am nächsten Tag haben wir in Diyarbakir einer der Flüchtlingscamps besucht. Dort waren 400 Flüchtlinge in einem geschlossnen und klimatisierten Sportstadium untergebracht. Es wurde sofort von der Ärztekammer Diyarbakir und die Gewerkschaft für Gesundheitsberufe auf freiwilliger Basis eine Versorgungsstation mit reichlich Medikamenten und 24 Stunden anwesenden Gesundheitspersonal eingerichtet. Danach haben wir für etwa 24000 Euro Medikamente gekauft, die wir zur Akutversorgung mitgenommen haben.

Am Abend haben wir dann im Ärztekammer Diyarbakir uns mit 34 kurdischen Ärztevertretern aus der Region getroffen. Gemeinsam haben wir ein Aktionsplan erarbeitet. In einer Liste für Freiwillige hatten sich bereits 250 Personen (150 Ärzte und 100 Pflegekräfte) eingetragen. Nach den Sommerferien wird diese Zahl wahrscheinlich um 400 zu liegen kommen.

Am Mittwoch den 20.08.2014 sind wir dann mit 15 Personen und die eingekauften Medikamenten Richtung Irak gefahren. Nach etwa 7 Stunden konnten wir endlich die Grenze überschreiten. Auf der kurdischen Seite wurden wir durch den Direktor des Amtes für Gesundheit der Provinz Dohuk, Direktor des Amtes für Gesundheit des Distrikts Zakho und einigen anderen Ärzte empfangen. Sie waren über unsere Ankunft extrem erfreuet. Bereits an dem gleichen Tag haben wir in Zakho einen großes Flüchtlingslager mit etwa 31.500 Flüchtlinge besucht und uns informiert. An den folgenden Tagen wurden wir durch den zuständigen Kollegen in bereits vorhandene Teams eingeteilt und wir konnten dann in fünf Teams unseren Kollegen in verschiedenen Flüchtlingscamps, in den drei Krankenhäusern in der Satt Zakho und in Mobilen Versorgungseinheiten unterstützen und die Flüchtlinge versorgen. Jeder Arzt sieht pro Tag etwa 300 Patienten. Sie müssen als Arzt alle Fachrichtungen der Medizin beherrschen. Sie haben Patienten mit allen möglichen Krankheiten und jeden Alters in erdenklich schlechtem Zustand. Meist Leidtragende der Flucht sind vor allem die Kinder. Gerade die ganz kleinen leiden unter extremen Durchfall, Dehydratation und Bronchitis. An dem Tag herrschen Temperaturen um 45°C. In der Nacht kühlt das Wetter bis auf 20°C herunter. Dieser Temperaturunterschied macht bei fehlenden Matratzen und Decken sowie Kleidung extreme Probleme und verursacht Bronchitiden und Exsikkose. Bei den Erwachsenen sind in erster Linie die chronischen, behandlungsbedürftigen Krankheiten wie Herzsuffizienz, Diabetes, Bluthochdruck, Niereninsuffizienz, Rheuma, Arthrosen, die durch die fehlende Therapie und Strapazen der mehrere Tage andauernden Flucht, dekompensiert sind anzutreffen. Während für die Akuttherapie genügend Medikamente zur Verfügung stehen, gibt es erhebliche Versorgungsengpässe bei der Behandlung der chronischen Krankheiten durch fehlende Medikamente. Einerseits war keiner auf so einen Ansturm von Flüchtlingen vorbereitet anderseits fehlt es auch an finanziellen Ressourcen, weil die Irakische Zentralregierung seit mehreren Jahren den vereinbarten Anteil des Budgets an die kurdischen Regionalverwaltung nicht überweist.

Auffällig ist, dass die meisten Kinder keine Schuhe und keine adäquate Kleidung haben.

Am 23.08.2014 haben wir für etwa 11.000 US Dollar für 1200 Kinder Schuhe, Kleidung und Spielzuge gekauft und diese in verschiedenen Camps verteilt.

Am heutigen Tage haben wir nach Rücksprache mit den Flüchtlingen selbst, Verantwortlichen in den Camps und Vertretern der Yeziden uns entschieden unter Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden folgende Investitionen zur Versorgung der Flüchtlinge mit unseren Spendengeldern zu betätigen:

1: Auf drei neuen (in zwei bis drei Tagen werden sie fertig gebaut sein) Flüchtlingscamps stellen wir jeweils drei Container (mit jeweils 18 qm) als Medizinische Versorgungsstation zur Verfügung. Es werden insgesamt 9 Container mit kompletter Einrichtung für etwa 67.500 US Dollar hingestellt.

2: Es werden drei Container mit Kühlungseinrichtung (bis etwa 18-20°C) und zwei Container für eine Kühlung bis auf 4°C für die Lagerung der Medikamente angeschafft. Wir werden die Kosten in Höhe von 82.000 US Dollar übernehmen. In diesen Containern werden auch die Medikamente zum Impfen transportiert und gelagert.

3. Wir werden zwei mobile Zahnarztpraxen kaufen, die in den verschiedenen Flüchtlingscamps eingesetzt werden. Diese mobilen Einheiten werden von einem Kollegen in einem Wohnwagen hier in Dohuk zusammengesetzt. Wir haben eine solche Einheit heute gesehen und waren zutiefst beeindruckt. Ein Zahnarztkollege von uns hat eine Tag damit gearbeitet und war sehr angetan. Er ist in der Lage zwei solche Einheiten innerhalb von einer Woche zusammenzubauen. Die Kosten in Höhe von 31.000 US Dollar werden von uns übernommen.

4. In einigen Flüchtlingscamps sollen WC’s spezielle für Frauen mit Duschmöglichkeit und einer Einheit zum waschen von Wäsche gebaut werden. Hierbei soll die Einheit zum Wäsche waschen nur als Tarnung dienen, weil die meisten Frauen aus Scham sich nicht trauen tagsüber die Toiletten aufzusuchen. Die Kosten hierfür werden noch ermittelt, werden aber von uns ebenfalls übernommen.

Weitere Investitionen werden eher im Bereich der humanitären Versorgung mit Decken, Kleider, Geschirr, Hygieneartikeln sein. Die genaue Höhe wird in den nächsten Tagen ermittelt werden. Es wird ein Einsatzplan erstellt um die Kollegen aus Europa und der Türkei-Kurdistan regelmäßig in die Versorgung einzubinden. Vor allem sind die Fachärzte für Kinderheilkunde, Frauenkrankheiten und Innere Medizin gefragt.

Somit haben wir am heutigen Tage Investitionen in Höhe von etwa 180.000 US Dollar vereinbart. Die Aufträge für die medizinischen Einheiten in den Camps und die Kühlcontainer sind bereits erteilt. Das Geld wird nächste Woche an die zuständigen Behörden überwiesen, sofern der Auftrag nachweislich erledigt wurde.

Wir können eine erfolgreiche und sinnvolle Arbeit nur durch die Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden absolvieren. Alleine sind solche wichtigen Investitionen nicht betätigen und umsetzen.

Der Präsident der Regionalregierung hat angeordnet, dass alles andere zuerst liegen gelassen werden muss bis die Flüchtlinge komplett versorgt sind. So sind alle extrem bemüht die Flüchtlinge mit allem, was notwendig ist zu versorgen. Auch die Bevölkerung versucht mit allem den Flüchtlingen zu helfen. Selbstverständlich gibt es auch Kritikpunkte und Mängel. Aber man kann die Arbeit der Behörden im höchsten nur loben. ich glaube, dass fast jedes Land bei so viel Flüchtlingen überfordert wäre und an die Grenzen der Machbarkeit stoßen würde.

Es wird eine Herausforderung sein, diese Menschen mit allen zu erwartenden sozialen und psychologischen Konflikten, in ein geregeltes Zusammenleben zu halten. Die brauchen Betätigung, Schulen, eine Hoffnung und eine Perspektive. Diese Aspekte sind schwerer zu handhaben als die Begeisterung der Akutsituation. Ab Morgen wird unser Team im Gebiet Dohuk unterwegs sein und mit den dortigen Kollegen die Flüchtlinge in den vier verschiedenen Camps versorgen.

Herzliche Grüße
Prof. Dr. med. H. Bektas

Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Allgemein-, Viszeral- und
Transplantationschirurgie