HPŞ-Oberkommandeur Heydar Shesho (mi.) am 11. Januar 2015 in Oldenburg: Diskussion über den Genozid in Shingal und die Zukunft der Êzîden
HPŞ-Oberkommandeur Heydar Shesho (mi.) am 11. Januar 2015 in Oldenburg: Diskussion über den Genozid in Shingal und die Zukunft der Êzîden

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[O]ldenburg. Der Oberkommandeur der êzîdîschen Verteidigungseinheit Shingals (HPŞ), Heydar Qaso Shesho, hat sich im Rahmen einer Veranstaltung in der niedersächsischen Stadt Oldenburg am 11. Januar erneut für eine Selbstverwaltung der Êzîden in Shingal ausgesprochen. Oberkommandeur Shesho, der im Yezidischen Forum Oldenburg e.V. über die Ereignisse in Shingal berichtete, erklärte dass „die Êzîden das Recht auf eine Selbstverwaltung haben.“

Die Informationsveranstaltung wurde mit einer Schweigeminute im Gedenken der Opfer des IS-Terrors in Shingal begonnen. Dass es zu solch einem Genozid kommen konnte, liege auch daran, dass Êzîden in der zwischen der kurdischen und irakischen Regierung umstrittenen Region keine realpolitische Partizipation erlangt haben bzw. erlangen durften.

„Auch nach dem Sturz des Saddam-Regimes nach 2003 waren die Êzîden nie in der Position, eigenverantwortlich politische Entscheidungen für ihre Regionen zu treffen, vor allem die Êzîden in der Region Shingal nicht. […] Nur formell hatten wir in Shingal eine Entscheidungsbefugnis, nicht aber realpolitisch“, so Shesho vor rund 300 Gästen.

Informationsveranstaltung mit HPŞ-Oberkommandeur Heydar Shesho am 11. Januar 2014
Informationsveranstaltung mit HPŞ-Oberkommandeur Heydar Shesho am 11. Januar 2014

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Über die Hintergründe des Genozids in Shingal äußerte sich Oberkommandeur Shesho ausführlich.

„15 Tage vor Beginn des Genozids in Shingal beobachteten wir die immer bedrohlicher werdende Situation. Alle Nachbargebiete Shingals fielen an den IS, von Baaj über Tal Afar bis nach Mosul. Täglich stand auch uns ein Angriff auf Shingal bevor. So fassten wir zusammen mit den Êzîden in Shingal den Beschluss, Vorbereitungen zu unserer Verteidigung in der Region Shingal zu treffen. Wir wollten in der Lage sein, uns selbst zu verteidigen. So war es unsere Bestrebung, eine Verteidigungseinheit zu gründen.“

Rund 3.500 Freiwillige meldeten sich in Shingal, um sich dieser Verteidigungseinheit anzuschließen. Zunächst wurde 1.935 Frewillige in einem Dokument registriert und den verantwortlichen Peshmerga-Behörden vorgelegt: „Ich hielt es für besser, die Verantwortlichen der Region Shingal, die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), aufzusuchen, deren Verantwortlicher zu dem Zeitpunkt Herr Serbest Bapîrî war, um íhn nach seiner Meinung zu befragen. Mit einer Delegation aus Shingal, etwa zehn Personen, suchten wir dann das Politbüro der 17. Abteilung der PDK auf, legten ihnen die Liste mit den Namen vor und erklärten sowohl die Situation als auch unsere Bestrebung“, erklärt Shesho weiter.

„Zunächst äußerte Herr Bapîrî seine Zufriedenheit über die Bereitschaft, die Region Shingal zu verteidigen. Doch er hatte noch einige Fragen diesbezüglich. Die Fragen drehten sich schließlich um die [registrierten] Personen, wer sie seien und woher sie kämen.

Ich antwortete, dass alleine 50% der 1.935 Personen dieser Liste Peshmerga der PDK seien. Die weiteren Personen gehörten der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) sowie der Harakat-Partei an oder waren Freiwillige. Leute, die sich in Shingal verdient gemacht hatten. Herr Bapîrî lehnte sogleich ab und begründete seine Ablehnung mit zwei Punkten: Erstens, wieso wir sagen, dass es eine êzîdîsche und keine kurdische Einheit sei?

Oberkommandeur Heydar Shesho (li.) und Dr. Eskerê Boyik
Oberkommandeur Heydar Shesho (li.) und Dr. Eskerê Boyik

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Und ich sage es hier deutlich: Wenn auch nur einer dieser insgesamt 3.500 Personen kurdischer Muslim gewesen wäre, hätten wir diese Einheit als eine kurdische Kraft beschrieben […], aber außer den Êzîden aus Shingal hat sich niemand sonst registriert.“

Ein weiterer Grund der Ablehnung seitens des PDK-Verantwortlichen Serbest Bapîrî war die Zugehörigkeit einiger Êzîden, die sich in die Liste eingetragen hatten und der Harakat-Partei nahestanden. Die Harakat-Partei, Harakat wa Islah wa Teqadam, ist eine unabhängige êzîdîsche Partei in Shingal, die besonders von der kurdischen Regierung abgelehnt wird. Bei den vergangenen irakischen Parlamentswahlen erhielt die Harakat in Shingal die meisten Direktstimmen für ihren Kandidaten Hecî Kondor, der den Quotensitz für Êzîden gewann.

Oberkommandeur Shesho: „Ich wies ihn [Serbest Bapîri] darauf hin, dass es vielleicht nicht unseren beiden Ansichten entspricht, es uns derzeit um eine andere Sache geht, nämlich um die Verteidigung Shingals. Das Interesse sei alleine auf Shingal und die Menschen in Shingal gerichtet.“

Der PDK-Verantwortliche Bapîrî lehnte dennoch ab und begründete seine Ablehnung auch damit, dass „8.000 Peshmerga in Shingal stationiert [sind] und eher das Blut all dieser 8.000 Peshmerga in Shingal fließen wird, als dass man die Region aufgebe. […] Die Peshmerga sind hier stationiert und wir sind die Verantwortlichen für die Region Shingal“, so Bapîri gegenüber Oberkommandeur Shesho.

Informationsveranstaltung von Heydar Qaso Shesho in Oldenburg am 11. Januar
Informationsveranstaltung von Heydar Qaso Shesho in Oldenburg am 11. Januar

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Zwei Wochen später, am 3. August, überrante die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) die Region Shingal. Die 8.000 direkt in Shingal stationierten Peshmerga sowie die 3.000 weiteren in der Umgebung (Zumar-Region) flüchteten ohne Widerstand. Es kam zum Genozid, in dessen Folge über 5.000 Êzîden getötet, bis zu 7.000 Frauen, Kinder und Mädchen entführt und 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Zwei Wochen harrten über 80.000 Flüchtlinge im Shingal-Gebirge bei extremer Hitze von bis zu 50° ohne Wasser und Nahrung aus, um Schutz vor den IS-Terroristen zu suchen. Hunderte Menschen, darunter zahlreiche Kinder, verdursteten. US-Präsident Barack Obama befahl schließlich den Einsatz von Luftschlägen gegen die Terrormiliz IS, sodass durch Bodentruppen der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG ein 70km umfassender Fluchtkorridor vom Gebirge in syrische Gebiete eröffnet werden konnte.

„Niemand soll also behaupten, sie [die Peshmerga] seien nicht für die Region Shingal und das Massaker verantwortlich gewesen. Ich betrachte die 8.000 genannten Peshmerga sowie 3.000 in der Region Zumar, insgesamt also 11.000 Peshmerga, als die Verantwortlichen für diesen Genozid“, führt Shesho fort. Es müsse daher auch nach den Beweggründen gefragt werden, weshalb die Peshmerga beider Einheiten (PDK und YNK) die Region Shingal nicht verteidigten und „ohne auch nur einen Schuss abzugeben“ aus der Region flüchteten, noch ehe die IS-Terrormiliz etwa den Norden Shingals erreichte.

„Ich danke unseren Freunden der YPG/PKK, die ohne zu zögern unverzüglich in Shingal einmarschierten, um uns zu helfen und die Menschen zu verteidigten. Sie haben mit dem Fluchtkorridor zehntausenden Êzîden in Shingal das Leben gerettet. […] Sie verhinderten auch ein Eindringen in das Shingal-Gebirge, sonst wäre es zu weiteren Massakern gekommen“, so Shesho, der mehrfach seine Dankbarkeit im Namen der Êzîden zum Ausdruck brachte, da die YPG/PKK-Einheiten seit „der ersten Stunde“ in Shingal die Menschen verteidigten.

Auch wenn die Einheiten der YPG, PKK und seit dem 18. Dezember 2014 die der Peshmerga viele Opfer für Shingal erbrachten, könne das kein Grund sein, sie auch in Zukunft als Machthaber in der Region Shingal zu akzeptieren.

„Wir danken nochmals allen Einheiten, die zu Dutzenden Opfer für Shingal dargebracht haben. Aber auch wir Êzîden haben in der Vergangenheit immer wieder Opfer für diese Einheiten gegeben, ich glaube, es gibt keine Einheit, in der nicht ebenfalls dutzende Êzîden ihr Leben gelassen haben“, erklärt Shesho. Jede Einheit, gleich welcher Partei, sei in Shingal willkommen, solange sie die Region verteidigen möchten, weil sie es als kurdische Einheit als ihre Pflicht betrachten. Man werde aber „keine andere Armee“ mehr in Shingal akzeptieren. Die Êzîden in Shingal müssen ihre Zukunft und die Geschehen in ihrer Region selbst bestimmen, so Shesho. Nur so könne eine effektive Verteidigung sichergestellt werden. Die HPŞ, die rund 3.000 Kämpfer umfasst, soll auch in Zukunft die Verteidigungseinheit der Êzîden in Shingal stellen und die Region verteidigen.

Oberkommandeur der HPŞ Heydar Qaso Shesho in Oldenburg [in kurdischer Sprache]

© ÊzîdîPress, 14. Januar 2015