Lalish. Im Nordirak sind weit mehr religiöse Stätten der êzîdîschen Minderheit durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zerstört worden als bisher angenommen. Insgesamt seien 92 Stätten, darunter Tempel, Schreine und kleinere Pilgerstätten der Êzîden von August 2014 bis zur Vertreibung des IS im Sommer 2017 zerstört worden, so der êzîdîsche Forscher Kovan Khanki. In der Printausgabe der im Nordirak erscheinenden Zeitschrift „Lalish“ listet Khanki alle 92 zerstörten Stätten namentlich auf.

In der Shingal-Region wurden 14 Pilgerstätten zerstört, darunter jahrhundertealte Schreine wie der zu Ehren „Êzîds“. Der weltweit für Êzîden zweitwichtigste Tempel Sherfedîn konnte hingegen in einem erbitterten Kampf erfolgreich verteidigt werden. Die meisten Stätten wurden in der Gemeinde Bashiq und Bahzan nahe Mosul zerstört, wo traditionell viele êzîdîsche Tempel und Schreine zu finden sind. Die Gemeinde gilt als Heimat der Qewals, der religiösen Sänger, die die seit Jahrhunderten die mündlich tradierten, religiösen Gesänge von Generation zu Generation weitergeben. Dort wütete die Terrormiliz über drei Jahre und riss 59 heilige êzîdîsche Stätten bis auf die Grundmauern nieder. In der Gemeinde Babira wurden weitere 19 Pilgerstätten zerstört.

Besonders barbarisch traf es die êzîdîschen Bewohner des Dorfes Jidale im Süden der Shingal-Region. Als die IS-Terroristen das Dorf im August 2014 eroberten, sind es vor allem die älteren Dorfbewohner, die für eine Flucht über das unwegsame Gebirge zu schwach sind. Sie werden von den IS-Terroristen in der örtlichen Pilgerstätte „Mend“ zusammengetrieben und anschließend mit der Stätte zusammen in die Luft gejagt. Über 60 Êzîden werden getötet. Unter den Opfern waren vor allem Familienmitglieder der Familie Shero, die Nachfahren des legendären Hemoye Shero, der während des Völkermordes an den Armeniern 1915/1916 tausenden Christen das Leben rettete.

Die kulturelle Zerstörungswut des IS beschränkte sich nicht nur auf êzîdîsche Heiligenstätte. Auch christliche, schiitische und Stätten anderer Minderheiten wurden zerstört oder entweiht. Alles was aus Sicht des IS unislamisch war, gehörte vernichtet.

Während die Êzîden in Bashiq, Bahzan und Babira mit dem Wiederaufbau der zerstörten Tempel begonnen haben, leidet die Shingal-Region weiter unter dem politischen Unwillen der irakischen Regierung, den generellen Wiederaufbau in die Wege zu leiten. Fast die gesamte Infrastruktur liegt auch Monate nach dem Sieg über den IS brach.

Dort fehlt es den Menschen an nahezu allem; Gedanken an einen Wiederaufbau der Tempel hat hier kaum jemand. Zu präsent sind die Folgen des anhaltenden Völkermordes. Noch immer werden bis zu 3.000 Frauen und Kinder von der Terrormiliz festgehalten. In der gesamten Region wurden bisher über 70 Massengräber entdeckt, die bis heute unzureichend gesichert und dokumentiert wurden.

© ÊzîdîPress, 28. Februar 2018