Sinune. Wenige Tage vor dem geplanten Unabhängigkeitsreferendum der Kurden im Nordirak sind tausende êzîdîsche Flüchtlinge in Panik aus ihren Flüchtlingslagern in den kurdischen Gebieten in ihr noch immer brachliegendes Heimatgebiet Shingal geflohen. Über 1.000 Familien haben in Eile ihr Hab und Gut auf PKWs verladen und sich in Richtung Shingal aufgemacht – trotz Zerstörung, fehlender Infrastruktur, verminten Gebieten und in Ruinen liegenden Häusern. Die Verantwortlichen der Flüchtlingslager versuchten die Êzîden erfolglos zum Bleiben zu überreden.

Grund für die Flucht der êzîdîschen Flüchtlinge sind erwartete Spannungen zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralegierung in Bagdad, die mit dem am 25. September geplanten Referendum eine neue Eskalationsstufe erreichen könnten.

Die Familien stammen zumeist aus dem Süden der Shingal-Region, wo schiitische Milizen mithilfe êzîdîscher Bataillone die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) erfolgreich vertreiben konnten. Obwohl die Region bisher weder von Minen befreit noch Häuser und die Infrastruktur wiederaufgebaut wurden, sehen viele der ehemaligen êzîdîschen Bewohner sich gezwungen, dorthin zurückzukehren. Sie befürchten, dass eine Rückkehr nach dem kurdischen Referendum am 25. September nicht mehr möglich sei, weil sowohl die irakischen als auch die kurdischen Truppen möglicherweise alle Checkpoints und damit die Zugangsstraßen versperren würden. Auch eine Teilung der Shingal-Region scheint möglich. Ein Wiederaufbau der Region und eine geordnete Rückkehr scheiterten bisher vor allem an den politischen Machtkämpfen

Viele der êzîdîschen Flüchtlinge fürchten aber auch, zur Abgabe ihrer Stimme gezwungen zu werden, obwohl sie sich am Referendum nicht beteiligen wollen. Das Klima der Angst, das von den Sicherheitskräften der PDK (Asayish) geschaffen wurde, setzt die Flüchtlinge unter enormen Druck. Sie könnte schließlich der Zorn der Demokratischen Partei Kurdistans (kurd. PDK) treffen, sollte das Ergebnis der Wahl nicht zufriedenstellend ausfallen. Diese Angst ist nicht unbegründet und rührt von den Erfahrungen aus den vergangenen Wahlen in der Shingal-Region her. Dort sind Milizen der PDK immer wieder gegen unabhängige êzîdîsche Politiker, die die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten, vorgegangen, um sie unter Druck zu setzen und bestraften die Êzîden im Kollektiv.

Trotz der Gefahren und der Zerstörung fühlen sich die êzîdîschen Flüchtlinge im gefährlichen Shingal freier als in den Flüchtlingslagern, wo man sie bewusst seit Jahren als politisches Druckmittel missbraucht. Drei Jahre nach dem Beginn des Völkermordes hat sich für die êzîdîsche Gemeinschaft nichts geändert. Die Angst vor der Zukunft bleibt. Auch, weil sich keiner der politischen Verantwortlichen im Irak ernsthaft für die Anliegen der Êzîden oder die Interessen anderer Minderheiten interessiert. Die Befürchtung der Minderheiten, in den politischen Machtkämpfen weiter zerrieben zu werden, ist längst Realität geworden.

© ÊzîdîPress, 22. September 2017