Hemoyê Shero, êzîdîsche Legende und Stammesführer in Shingal im 19./20. Jahrhundert
Hemoyê Shero, êzîdîsche Legende und Stammesführer in Shingal im 19./20. Jahrhundert

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Vor 100 Jahren, ab dem Jahr 1915, begannen die Jungtürken/Osmanen mit dem Vernichtungsfeldzug gegen die christlichen Völker in Mesopotamien. Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts, der den Begriff des Völkermordes prägte. Bis zu 1,5 Millionen Menschen wurden massakriert und auf Todesmärsche getrieben, auf denen sie verhungerten und verdursteten. Neben den Christen – Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontusgriechen – waren auch Êzîden Opfer des Genozids. Wie bereits in den Jahrhunderten zuvor verschonten die Osmanen auch diesmal die êzîdîsche Bevölkerung nicht. Abertausende Êzîden wurden ermordet. Das gemeinsame Leid und die gegenseitige Solidarität prägt die bis heute anhaltende Freundschaft zwischen den Êzîden und den Christen im Nahen Osten.

Doch die Êzîden und Christen leisteten auch Widerstand. Vor allem ein Êzîde lebt bis heute als Legende weiter: Hemoyê Shero, dessen Wirken hier kurz dargestellt werden soll. Neben Hemoyê Shero war vor allem Cangir Axa einer der bekanntesten êzîdîschen Widerstandskämpfer, der in Armenien zum Nationalhelden erklärt worden ist.

Hemoyê Shero, êzîdîscher Stammesführer in Shingal, rettete mit seinen Kämpfern rund 20,000 Christen, Aramäer und Assyrer, während des Völkermordes ab dem Jahre 1915 im Shingal-Gebirge. Als die osmanischen/türkischen Verfolger die Herausgabe der christlichen Flüchtlinge verlangten, beschloss Hemoyê Shero die Christen mit Waffengewalt zu verteidigen.

Hemoyê Shero, êzîdîsche Legende und Stammesführer in Shingal
Hemoyê Shero, êzîdîsche Legende und Stammesführer in Shingal

Îsmaîl Çol Beg, seinerzeit weltliches Oberhaupt der Êzîden, sandte einen Brief an die christlichen Geistlichen und erklärte darin, dass die Êzîden zur Verteidigung der Christen bereit sind. Treffen mit aramäisch/chaldäischen Klerikern folgten. Die aramäischen und assyrischen Verantwortlichen ließen Frauen, Kinder und Greise in das Shingal-Gebirge bringen.

Zur gleichen Zeit begann Cangir Axa, êzîdîscher Rebellenführer, zusammen mit armenischen Widerstandskämpfern im Norden der heutigen Türkei den bewaffneten Widerstand gegen die Osmanen. An seiner Gedenkstätte wir alljährlich mit militärischen Ehren an seinen Kampf erinnert.

Die Osmanen verlangen immer wieder die Herausgabe der christlichen Flüchtlinge und drohten den Êzîden mit Konsequenzen. Prof. Christine Allison, die am Institut für arabische und islamische Studien an der britischen Universität Exeter lehrt, berichtet über den genannten Vorfall:

“Die Osmanen sandten ihren Boten zu den Êzîden in das Shingal-Gebirge und forderten mit einem Brief die Herausgabe der aramäischen Flüchtlinge, ansonsten würden die Êzîden selbst die Konsequenzen zu spüren bekommen. Die êzîdîschen Stammesführer zerrissen den Brief und sandten den Boten zur osmanischen Armee zurück – ohne Kleidung”.

Dawid ê Dawid, êzîdîscher Stammesführer der Ciwana in Shingal, stieß mit einem großen Heer êzîdîscher Kämpfer zu Hemoyê Shero vor. Hemoyê Shero berief die weiteren êzîdîschen Stammesführer ein und erläuterte die Situation. Den Überlieferungen zufolge soll er gesagt haben:

Êzîdîsche und armenische Widerstandskämpfer unter dem Befehl von Cangir Akha
Êzîdîsche und armenische Widerstandskämpfer unter dem Befehl von Cangir Akha

„Wie kann ich akzeptieren, jene Armenier den Osmanen auszuhändigen, die hilfesuchend zu uns gekommen sind? Ich habe ihnen versprochen und bei meiner Ehre geschworen, sie zu verteidigen und nicht an die Osmanen auszuliefern, solange auch nur eine Träne in mir übrig bleibt. Wenn meine Söhne und ich dafür sterben müssen, soll es so sein!“

Die Christen versteckten die ortskundigen Êzîden in Höhlen und unter Felsvorsprüngen. Als die Türken/Osmanen versuchen das Shingal-Gebirge vom Süden her zu stürmen, erwidern die Êzîden das Feuer und halten über zwei Monate stand. Über Tal Afar versuchen die Osmanen zum Gebirge vorzurücken. Der êzîdîsche Stammesführer Khelef Shingalî versucht dies zu verhindern und rückt mit etwa 40 Reitern vor, um die Osmanen bei ihrem Vormarsch aufzuhalten. Als die osmanischen Truppen kurz vor dem Gebirge stehen, kommt es in den Dörfern Heme, Qizilkent, Chenan, Gabar, Qesirk und Jiddalê zu schweren Kämpfen. Die êzîdîschen Zivilisten fliehen in das Gebirge während die Osmanen das Gebirge belagern.

Hemoyê Shero und seine Gefährten rücken vom Gebirge her vor und stoppen den Vormarsch der Osmanen. In einer Nacht tötet die Einheit Sheros über 35 osmanische Reiter. Einer seiner engsten Freunde und langjähriger Weggefährte kommt während den Gefechten ums Leben.

Eine Vielzahl von türkischen/osmanischen Soldaten wurde dabei getötet, auch auf Seiten der Êzîden gab es viele Opfer. Dennoch gelang es, die Osmanen zum Rückzug zu zwingen. Der osmanische Heerführer Ibrahim Pasha beklagte sich über die Leichenzüge der osmanischen Soldaten, die nach Mosul transportiert wurden.

Treffen von Îsmaîl Tschol Beg und Hemoyê Shero mit christlich-chaldäischen Klerikern
Treffen von Îsmaîl Tschol Beg und Hemoyê Shero mit christlich-chaldäischen Klerikern

Aus Rache plünderten die Osmanen die êzîdîschen Dörfer und brannten sie anschließend nieder. Auch die Nahrungsvorräte wurden geplündert und/oder vernichtet, so versuchten sie die Êzîden zur Herausgabe der Christen zu zwingen. Doch die Êzîden hatten vorgesorgt und zuvor ausreichend Nahrung in das Gebirge verlagert.

Die Osmanen ziehen sich schließlich gänzlich zurück, die im Gebirge ausharrenden Christen und Êzîden waren gerettet. Trotz der großen Entbehrungen konnten sie den Widerstand aufrechterhalten. Mehrere christliche Familien verblieben in Shingal und siedelten sich in der Region an, wo sie teilweise bis heute leben.

Der christliche Mönch Abdulmassih Karabasch schreibt in seinen Memoiren «Vergossenes Blut» hierzu: „Die Êzîden mögen die Christen sehr; Sie sind edlen Charakters und gastfreundlich. Dies wurde offenbar bei ihrer Aufnahme der Christen und ganz besonders, als sie sich versammelten, um die Christen vor den Verfolgungen und den Blutbädern zu retten; sie gaben sogar ihr Leben für die Christen und ertrugen die Plünderungen ihrer Häuser, um die Christen zu schützen. Außer im Sindjar-Gebirge, unter dem Schutz der Êzîden, konnten sie nirgends Zuflucht finden.“

Hemoyê Shero wurde ca. 1850 im Dorf Ziving, südlich des Dorfes Melik, in Shingal geboren. Er wird zum Stammeschef der Dina, einem der größten Stämme der Êzîden. Die Briten schätzen Hemoyê Shero als fähigen Diplomaten und bieten ihm gar an, in Shingal eine Autonome Region zu gründen, was Shero jedoch aus geopolitischen Gründen ablehnt. Im Alter von 83 stirbt Hemoyê Shero, der auch wegen seines religiösen Wissens geschätzt wurde. In Gedichten und Erzählungen der Êzîden lebt er bis heute fort.

© ÊzîdîPress, 24. April 2015