Gastbeitrag von Zeya Mîrza (Lehramtsstudent, Mitglied im ezidischen Verein „Komela Kaniya Sipî“)

Zeya Mîrza
Zeya Mîrza

Wenige Tage vor dem Überfall auf Polen 1939 soll Adolf Hitler gesagt haben: „Wer spricht noch heute von der Vernichtung der Armenier?” Zeigte sich in dieser Aussage zum Schweigen über die Geschehnisse im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs Hitlers Bestärkung seiner Pläne zur Vernichtung der Juden? Wegen seines Ausmaßes gilt der Holocaust an den Juden während des Dritten Reichs als das größte und massivste Verbrechen gegen die Menschheit überhaupt. Weitgehend unbekannt ist hingegen das Geschehen um die Armenier in den Jahren 1915/16 während des Ersten Weltkriegs .

Das armenische Siedlungsgebiet stand bis zu seiner Unabhängigkeit 1991 unter Fremdherrschaft. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es erste Unabhängigkeitsbestrebungen der Armenier, die im Osmanischen Reich die sogenannte „Armenische Frage“ auslöste, bei der es darum ging, den Unabhängigkeitswillen der Armenier zu brechen. Ende der 1890er Jahre schloss sich eine Gruppe aus Studenten, jungen Beamten und Offizieren zusammen, die im Ausland unter dem Namen „Jungtürken“ bekannt wurden. Sie wollten aus der multiethnischen osmanischen Gesellschaft ein homogenes türkisches Vaterland schmieden. Für die Verwirklichung eines großtürkischen Reiches waren die Armenier als christliche Minderheit ein Hindernis, dessen Siedlungsgebiete sich zwischen dem der Türken und der von einem Turkvolk bewohnten russischen Provinz Aserbaidschan erstreckte, das es zu erobern galt. Im Januar 1913 putschten die Jungtürken Sultan Abdul Hamid II. vom Thron und übernahmen in Form einer Einparteiendiktatur die Herrschaft, womit der türkische Nationalismus zur Staatsideologie aufstieg. Am 30.10.1914 trat das Osmanische Reich an der Seite der Mittelmächte in den Weltkrieg. 1915 erlitt das osmanische Heer an verschiedenen Fronten vernichtende Niederlagen.

"Zizernakaberd" - Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien
„Zizernakaberd“ – Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien

Die Niederlage an der Kaukasusfront wurde von den jungtürkischen Führern nach der Dolchstoßlegende den Armeniern zugeschoben, weil sich ein Teil der Armenier mit dem russischen Feind verbündet haben. Dieser Vorwurf wurde zur Grundlage für den Kampf gegen das armenische Volk, der historisch in drei Phasen dargestellt werden kann, der hunderttausende bis mehrere Millionen Menschenleben gekostet hat. In der ersten Phase wurden sämtliche im osmanischen Heer dienenden Armenier von der Front abgezogen, entwaffnet und zur Zwangsarbeit verordnet. Die Ereignisse am 24. April 1915 leiteten die zweite Phase ein, bei denen die geistige und politische Elite der Armenier verhaftet, ins Landesinnere deportiert und später zu Tode gefoltert oder außergerichtlich hingerichtet wurde, weil diese angeblich einen Umsturz planten. Die „tödlichen Deportationen“ der armenischen Restbevölkerung in die mesopotamische und syrische Wüste ab dem 27. Mai 1915 erfolgten in der dritten Phase .

"Zizernakaberd" - Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien
„Zizernakaberd“ – Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien

In der offiziellen Darstellung der Türkei werden die Ereignisse von 1915/16 nicht völlig geleugnet. Vielmehr wird eine eigene, abweichende Interpretation geliefert. Die türkische Sichtweise vertritt den Standpunkt, dass es sich vielmehr um eine im Kontext des Krieges notwendige Umsiedlung der armenischen Bevölkerung gehandelt habe, da die Armenier sich mit dem Feind der Osmanen verbündet und ihrerseits Massaker an die muslimische Bevölkerung begangen hätten, bei denen zahlreiche Menschen beispielsweise durch Überfälle, Seuchen und Hunger ums Leben gekommen seien. In deren Interpretation ist von einem systematisch geplanten Genozid nicht die Rede. Dagegen herrscht in der Genozidforschung, die in den 1970er Jahre entstanden ist und unter den meisten Historikern mittlerweile Einigkeit darüber, dass es im Kontext des Ersten Weltkriegs einen systematischen und geplanten Genozid an den Armeniern durch das Osmanische Reich gegeben habe. Die Quellen, auf die sich die Autoren, wie zum Beispiel der evangelische Theologe und Orientalist Johannes Lepsius (Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, 1916) sowie der Journalist und Buchautor Wolfgang Gust (Der Völkermord an den Armeniern, 2005) stützen, befinden sich hauptsächlich in diversen diplomatischen Archiven. Sie stammen überwiegend von deutschen, österreichischen und US-amerikanischen Diplomaten und anderen zahlreichen Zeugenaussagen. Das deutsche Kaiserreich verfügte in der Türkei über ein enges Netz offizieller diplomatischer und militärischer Stellen, die in der Lage waren, über die Ereignisse aus erster Hand zu berichten. Die Dokumente waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ihre Beobachtungen und Rechercheergebnisse übermittelten die offiziellen deutschen Vertreter vor Ort in einem geschlossenen Informationssystem nur für ihre Vorgesetzten, die mit „vertraulich“, „streng vertraulich“, „geheim“ oder „ganz geheim“ versehen waren. In ihren Berichten bezeichnen sie die Ereignisse als „Massenvernichtung“, „Vernichtung eines Volkes“, „systematische Verfolgung“ und „Exterminierung der armenischen Rasse“. Der Bericht von Lepsius, der unmittelbar Augenzeuge der Geschehnisse war, beschreibt die Ereignisse als systematisch geplanten Völkermord an den Armeniern. Dabei stützt er sich besonders auf seine eigenen Beobachtungen und Erlebnissen, auf die oben genannten Dokumente der Zeitzeugen und auf die persönlichen Gespräche mit dem damaligen Kriegsminister Enver Pascha im Jahre 1915. Gust kommt in seinem veröffentlichten Werk aus dem Jahre 2005 „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16“ zu dem gleichen Ergebnis wie Lepsius. Methodisch fasst Gust die Geschehnisse auf den ersten hundert Seiten zusammen und bezieht sich in seiner Argumentation auf den nächsten fünfhundert Seiten auf eine Auswahl diplomatischer Akten aus dem Auswärtigen Amt. Eine dieser Quellen ist beispielsweise ein Telegramm des Innenministers Talaat Pascha an die Präfektur von Aleppo, die folgenden Befehl beinhaltete: „Rotten Sie mit geheimen Mitteln jeden Armenier der östlichen Provinzen aus, den Sie in ihrem Gebiet finden.“ Dass die Quellen, auf die sich Lepsius und Gust beziehen und stützen, eindeutig und unanfechtbar sind, zeigt sich dadurch, dass sie nicht für die Öffentlichkeit gedacht waren und nicht dem Zwecke dienten weitere Kreise durch Propaganda zu beeinflussen, weil das deutsche Kaiserreich seinem Bündnispartner, der Türkei, nicht schaden wollte. Die Verlässlichkeit dieser Dokumente ist durch die Zeugen selbst gewährleistet.

"Zizernakaberd" - Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien
„Zizernakaberd“ – Denkmalkomplex zum Gedenken der Opfer des Völkermords an den Armeniern in Yerevan/Armenien

Vieles bleibt aber nach wie vor ungeklärt und ist erst unzureichend erforscht. Wie zum Beispiel die Befehls- und Ereignisketten 1915 sowie die komplexen Entscheidungsfindungsprozesse der Jungtürken. Auch die Opferzahlen und die Beteiligung der muslimischen Bevölkerung, besonders der Kurden, an den Massakern und Plünderungen, ist ebenfalls erst ansatzweise untersucht worden. Folglich wird sich die Forschung in Zukunft intensiv mit diesen Kontroversen auseinandersetzen müssen. Die größte Schwierigkeit für weitere Forschungen auf diesem Gebiet und für eine Debatte des Völkermordes in der türkischen Öffentlichkeit ist die repressive Strafrechtspraxis, die eine juristische Verfolgung der Kritiker zur Folge hätte. Angewendet wird dabei der sowohl national als auch international umstrittene Paragraf 301 – „Herabwürdigung des Türkentums“ – des türkischen Strafgesetzbuches. So wurde beispielsweise der Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk im März 2011 wegen des Verstoßes gegen den Paragraf 301 zu einer Schadenersatzzahlung an mehrere Kläger verurteilt, weil sich die Kläger durch seine Äußerung „Die Türken haben auf diesem Boden dreißigtausend Kurden und eine Million Armenier getötet“ aus dem Jahr 2005 beleidigt fühlten.

Auch führt die fortlaufende Leugnungsstrategie der Türkei und die Duldung und partielle Unterstützung seitens der Vereinigten Staaten, Israels, Deutschlands und weiterer Länder als Bündnispartner der Türkei dazu, dass der Genozid an den Armeniern noch immer als Streitobjekt erscheint. Die Armenier werden hierdurch „in eine Kontroverse über die Wahrheit ihrer Erinnerung“ hineingezogen und die Historiker immer wieder zu einer Beweisführung gezwungen (Fritz Bauer: Völkermord und Kriegsverbrechen).

Literatur

  1. Akcam, Taner (2004): Armenien und der Völkermord – Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung.
  2. Asenbauer, Haig E. (1993): Zum Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes von Berg-Karabach.
  3. Bauer, Fritz (2004): Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
  4. Benz, Wolfgang (2006): Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord: Genozid im 20. Jahrhundert.
  5. Benz, Wolfgang (2010): Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords.
  6. Feigl, Erich (1986): Ein Mythos des Terrors. Armenischer Terrorismus, seine Ursachen und Hintergründe.
  7. Förster, Stig und Hirschfeld, Gerhard (1999): Genozid in der modernen Geschichte.
  8. Gust, Wolfgang (2005): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 – Dokumente aus dem politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts.
  9. Halacoglu, Yusuf (2006): Die Armenierfrage.
  10. Kieser, Hans-Lukas und Schaller Dominik J. (2002): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah.
  11. Koutcharian, Gerayer (1989): Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluss der Historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kongress 1878.
  12. Lepsius, Johannes (1916): Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei.
  13. Mann, Michael (2007): Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung.
  14. Söylemezoglu, Sahin Ali (2005): Die andere Seite der Medaille.
  15. Thelen, Sibylee (2010): Die Armenierfrage in der Türkei.