Von Professor Jan Ilhan Kizilhan

Prof. Dr. Jan Ilhan Kizilhan
Prof. Dr. Jan Ilhan Kizilhan

Dienstag 19. August 2014 – Den in Deutschland lebenden Jesiden geht es in diesen Wochen nicht gut. In ihrer Heimat im Nordirak wütet der Terror und ein Völkermord findet in diesen Tagen an den Jesiden im Irak statt.

Die etwa 100 000 Jesiden in Deutschland stehen hilflos vor ihren Fernsehern oder erfahren per Telefon direkt aus dem Irak wie ihre Familienmitglieder auf der Flucht sind, ermordet oder verschleppt wurden. Tragödien, unermessliche Trauer, Schmerz, ein Gefühl von Ohnmacht und Furcht erleben heute die Jesiden in Deutschland. Hilflos und ohne einen wirklichen Plan – was sollten sie auch machen – gehen sie in vielen deutschen Städten auf die Straßen und versuchen auf das Leid ihrer Familien, Freunde und Bekannten aufmerksam zu machen. Nicht selten wird der Satz wiederholt: „Wir sind die Waisen dieses Universums, allein und ohne Unterstützung.“

Professor Jan Ilhan Kizilhan (48) ist Psychologe und Orientalist. Er ist Professor an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen in Baden-Württemberg sowie Projektleiter der Arbeitsgruppe Migration und Rehabilitation am Institut für Psychologie (Rehabilitationspsychologie) der Universität Freiburg.

Die Geschichte der Jesiden wird auf einen Zeitraum von mehr als 4000 Jahren geschätzt. Durch die Islamisierung der kurdischen Gebiete im Irak, Iran, Syrien und der Türkei seit 637 hat eine unglaubliche Odyssee der Verfolgung und Zwangsislamisierung der Kurden bis heute begonnen.

Seit mehr als 800 Jahren wird in der Literatur von Yeziden berichtet, die sich selbst Eziden nennen, was so viel wie „von Gott erschaffen“ bedeutet. Die Jesiden missionieren nicht und Jeside kann man nur durch Geburt werden. Sie glauben an Gott und sieben Engel und haben Elemente des Mithraismus und gehören historisch zu den iranischen Religionen, wie die alte Religion der Iraner, dem Zarathrismus.

Seit dem 13. Jahrhundert bis heute sind mehr als 1,2 Millionen Jesiden zwangskonvertiert und 1,8 Millionen ermordet worden. Die Jesiden versuchen heute verteilt in den Ländern des Iraks, der Türkei und Syrien zu überleben. In der Türkei und Syrien lebt nur noch eine kleinere Zahl von Jesiden. Im Nordirak, dem Hauptsiedlungsgebiet, leben 800.000 Jesiden, in dem sich auch ihre religiösen Heiligtümer befinden.

Warum dieser grausame und systematische Genozid durch die islamische ISIS?

Seit dem 16. Juni, kommend aus Syrien, hält die ISIS weite Teile des Iraks besetzt und verübt grausame Massaker gegen die irakische Bevölkerung, vor allem gegen Minderheitenreligionen, wie die Yarasan, Shabak, Christen, Mandäer und Jesiden. Die ISIS besetzt seit dem 3. August die jesidischen Siedlungsgebiete in der Nähe der Stadt Mosul. Seither sind mehr als 4000 Jesiden getötet worden. Es sind bereits 500 Jesiden lebendig bei Sinjar begraben worden. Weiterhin sind 500 junge Mädchen nach Musul verschleppt und vergewaltigt worden und sollen auf dem Markt verkauft werden. Etwa 200 000 Jesiden sind in die kurdische Region, 60 000 nach Syrien und 2000 in die Türkei geflüchtet und etwa 10 000 befinden sich noch in unwirtlichen Bergen ohne Schutz und Lebensmitteln.

Ihre Köpfe wurden auf den Schoss ihrer Frauen gelegt

Bereits jetzt sind 450 Kinder an Hunger und den Strapazen der Flucht gestorben, die Zahl ist steigend. Die Jesiden, die es nicht geschafft haben zu fliehen, sind in die Hände der ISIS gefallen und werden regelrecht abgeschlachtet. Nach einem Ultimatum der ISIS, die Jesiden sollten sich zum Islam bekehren, andernfalls würden sie hingerichtet, wurden am Freitag 80 und am Samstag 420 jesidische Männer in dem Dorf Khucho vor den Augen ihrer Familien umgebracht. Sie hatten sich geweigert den Islam anzunehmen. Ihre Köpfe wurden auf den Schoss ihrer Frauen gelegt. Anschließend sind die Frauen und Kinder in die Stadt Tel Afar verschleppt worden. Die Jesiden im Irak berichten weiter, dass etwa 2000 Jesiden ins staatliche Gefängnis von Mosul gebracht wurden und wie in einem Internierungslager misshandelt, gefoltert und ermordet werden.

Der Völkermord beginnt die Dimension von Ruanda anzunehmen

Das was sich seit zwei Wochen vor den Augen der Weltgemeinschaft gerade ereignet ist ein Völkermord. Er beginnt die Dimension von Ruanda anzunehmen.

Die militärische und humanitäre Hilfe der USA und der EU sind richtig und müssen ausgeweitet werden. Aber damit allein ist die ISIS nicht zu stoppen. Nur durch ein schnelles und effektives militärisches Eingreifen kann Leben gerettet werden.

Eine Diskussion für und gegen Waffenlieferung an die Kurden angesichts eines Völkermords aus Sicht der Jesiden und der tausenden Opfer ist zynisch, entbehrt jeder Realität. Die Weltgemeinschaft hat bereits 1994 in Ruanda versagt und zugeschaut, wie eine Million Menschen starben. Eine zweites Zuschauen würde das globale Gewissen und den Glauben an Freiheit und Demokratie schwer erschüttern und den internationalen Terrorismus stärken. Eine weitere Schande darf sich die Weltgemeinschaft einfach nicht leisten.

Die in Deutschland lebenden Jesiden, die Mehrheit sind deutsche Staatsbürger, erwarten von ihrem Land Deutschland humanitäre und militärische Hilfe, aber auch, dass mehr jesidische Flüchtlinge schnell und unbürokratisch aufgenommen werden.

Mittelfristig muss eine Schutzzone für Sinjar eingerichtet werden

Auch in diesen schweren Tagen für die Menschen im Irak muss man sich Gedanken machen, wie sich so etwas nicht mehr wiederholen darf. Kurzfristig muss die ISIS bekämpft und mittelfristig eine Schutzzone für Sinjar eingerichtet werden. Es muss der Wiederaufbau begonnen und langfristig im jetzigen Irak oder in einem anderen Format des heutigen Iraks den Jesiden und Christen im Sinjar-Gebiet ein Status der Selbstverwaltung mit religiöser und kultureller Freiheit mit der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, der Kurden und vielleicht Bagdads ermöglicht werden.

Am Wochenende nahm ich an einer Konferenz über die Zukunft der Jesiden teil und erlebte eine tiefe Trauer, Wut und Ohnmacht bei den Teilnehmern. Ich erlebte, wie die für ihren Stolz und Heldenmut bekannten jesidischen Männer über die Gräueltaten an ihren Familien und Bekannten berichteten und weinend zusammenbrachen.

Es ist eine Traumatisierung, eine seelische Wunde, die sie wohl nun ihr ganzes Leben mit sich herumtragen müssen.