Êzîdîsche Widerstandskämpfer im frühen 20. Jahrhundert in Shingal (Nelida Fuccaro)
Êzîdîsche Widerstandskämpfer im frühen 20. Jahrhundert in Shingal (Nelida Fuccaro)


Seit Jahrhunderten dient die Shingal-Region im heutigen Norden des Iraks als Rückzugsraum für die êzîdîsche Minderheit und entwickelte sich so im Laufe der Zeit zum bedeutendsten êzîdischen Siedlungsgebiet. Das bergige Terrain dieser Region bot den Êzîden Schutz und ermöglichte es ihnen, sich erfolgreich gegen Angreifer zu verteidigen, die unzählige Male versuchten, die Minderheit zu unterwerfen.

Shingal hat für Êzîden nicht nur einen historischen Wert, sondern entwickelte sich durch die zahlreichen Kriege zur Bastion des êzîdîschen Widerstandes. Obwohl sie im Gebirge von ihren Feinden umzingelt waren, gelang es den Êzîden wie nirgendwo sonst, eine solche Unabhängigkeit und militärische Stärke zu entwickeln wie in Shingal. So schrieb der US-amerikanische Historiker britischer Herkunft John Spencer-Churchill Guest, ein Verwandter von Winston Churchill, über die Êzîden: „Es ist unglaublich, dass diese kleine Gemeinschaft in Lalish die Abbasiden, die Mongolen, den schwarzen Tod und die Erscheinung des Timur [Temür ibn Taraghai Barlas; Anm. d. V.] überlebte“.

Bekannt geworden waren die Êzîden unter den Osmanen und kurdischen Fürsten für ihre Rebellionen, mit denen sie gegen die Vormacht der ihnen feindlich gesinnten Muslime kämpften. Nur in Shingal wagten es die Êzîden, keine Steuern an die osmanischen Herrscher zu zahlen und sich ihnen nicht zu unterwerfen, und das obwohl die Region de facto zum Machtgebiet der Osmanen gehörte. In Shingal wagten es die Êzîden sogar, Raubzüge auf osmanische Handelskarawanen durchzuführen. Von späteren europäischen Reisenden wurde Shingal daher auch als „Staat im Staate“ bezeichnet. Der Preis für diese Freiheit war allerdings hoch: unzählige Vernichtungs- und Straffeldzüge mussten die Êzîden über sich ergehen lassen. Die Gouverneure von Mossul, Bagdad und auch kurdische Herrscher und osmanische Groswesire attackierten die Êzîden in der Shingal-Region und töteten dabei abertausende Êzîden. Frauen und Kinder wurden entführt und – wie heute durch den „Islamischen Staat“ – versklavt.

In Sheikhan, dem zweiten wichtigen Siedlungsgebiet der Êzîden, waren die Êzîden aufgrund der ungünstigen Lage auf Diplomatie angewiesen, um drohende Angriffe abzuwehren – was jedoch nur selten gelang. In Shingal hingegen bereiteten die Êzîden sich bei jeder kleinsten feindlichen Drohung auf einen Krieg vor. Das unzugängliche Gebirge von Shingal lieferte den Êzîden einen entscheidenden Vorteil, trotz ihrer zahlen- und waffenmäßigen Unterlegenheit. Für die osmanischen Herrscher stellte Shingal daher ihre vermeintliche Allmacht in Frage und war dauernder Konfliktherd. Der berühmte osmanische Reisende Evliya Celebi (1611 – 1683), der Shingal zwei Mal besuchte hatte, beschrieb die Êzîden als äußert tapfere und kampferprobte Männer, die ihre Söhne seit dem zarten Kindesalter aufs Kämpfen vorbereiteten. Celebi nahm auch Bezug zur umfangreichen Waffenausrüstung der Êzîden und erklärte sie zu den geschicktesten Kämpfern im Umgang mit der Flinte, die trotz des schlechten Zustandes der Flinten so geschickt und vortrefflich mit ihnen umgingen, dass sie selbst „einen Floh ins Auge träfen“.

Im Jahr 1613 organisierte der osmanische Großwesir Nasuh Pascha, der zu seiner Zeit der zweitmächtigste Mann des osmanischen Reiches war, einen Feldzug gegen die Shingal-Region. Mit zehntausenden osmanischen Soldaten und von kurdischen Fürsten unterstützt, rückte der Großwesir vor die Ausläufe des Shingal-Gebirge vor und belagerte die Êzîden. In der darauffolgenden blutigen Schlacht konnten die Êzîden das Heer Nasuh Paschas (Gümülcineli Damat Nasuh Paşa) bezwingen und über 7.000 seiner Soldaten töten. Für die Osmanen bildete diese Schlacht eine ihrer verheerendsten Niederlagen. Die Êzîden beendeten damit die Ära des Nasuh Pascha, der ein Jahr später in Istanbul starb.

Selbst 40 Jahre danach war die Niederlage des Nasuh Pascha im Gedächtnis der Osmanen gegenwärtig. Im Jahre 1655 begab sich der osmanische Gouverneur von Diyarbekir, Firar Mustafa Pascha, mit einem gewaltigen Heer nach Shingal, um einen erneuten Angriff auf die Êzîdenregion zu wagen. Seine Soldaten schworen Rache für den Großwesir und den 7.000 getöteten Soldaten.

Die Êzîden jedoch zeigten sich unbeeindruckt und verspotteten den aufgebrachten Pascha. Und wie Nasuh Pascha musste sich auch Firar Mustafa Pascha geschlagen geben und sich aus Shingal zurückziehen. Erneut konnten die Êzîden ihren Kampf- und Überlebenswillen unter Beweis stellen und ihre Unabhängigkeit von islamischen Herrschern bewahren.

© ÊzîdîPress, 20. März 2017