Das Dorf Kocho im Süden Shingals: Hier massakrierte die Terrormiliz IS 600 êzîdîsche Männer
Das Dorf Kocho im Süden Shingals: Hier massakrierte die Terrormiliz IS 600 êzîdîsche Männer


[S]Said Mirad gehört zu den wenigen Êzîden, die das Massaker der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in dem êzîdîschen Dorf Kocho im Süden Shingals überlebten. Dort töten die IS-Terroristen Mitte August bis zu 600 êzîdîsche Männer und verschleppen über 1.000 Frauen und Kinder.

Said überlebt zusammen mit einem Freund schwer verletzt die Massenhinrichtung. Insgesamt wird er von sechs Kugeln getroffen, eine davon in seine Schulter: Abgefeuert von seinem ehemaligen Arbeitskollegen, der sich der Terrormiliz angeschlossen hat, als diese die Region Shingal überrannte. In einem Video berichtet er von dem Massaker in seinem Dorf. 

Said Mirad überlebte das Massaker in Kocho
Said Mirad überlebte das Massaker in Kocho

„Wir waren in Kocho, als am 3. August die Peshmerga davongelaufen sind. Wir fragen, wohin sie gehen und sie sagten uns, dass Verstärkung auf dem Weg sei, wir sollen im Dorf bleiben. Und wir blieben. Wir waren weit weg vom Gebirge, etwa 30km.

Einige sind den Peshmerga hinterher, doch sie wurden gefangen genommen und getötet. Als wir uns in unserem Dorf verschanzten, kam der IS. Sie sagten, wir sollten eine weiße Flagge hissen und nichts würde uns geschehen, sie kämen nicht wegen den Êzîden. Wir hissten also eine weiße Flagge. Kämpfer des IS kamen und wir sollten unsere Waffen aushändigen.“

Einige der êzîdîschen Zivilisten übergeben ihre Waffen, jedoch nicht alle. Der IS umzingelt mit Fahrzeugen, einem weiteren Überlebenden zufolge mit rund 40, das Dorf. Die Menschen können nicht entkommen und sind nun der Gewalt des IS ausgesetzt.

„Sie setzten uns ein Ultimatum von drei Tagen: entweder ihr werdet Muslime oder wir töten euch. Als sie sich von uns entfernen, berieten wir uns und wir alle entschieden, dass wir keine Muslime werden wollen. Sollen sie uns eben töten, wir werden keine Muslime.“

Als das Ultimatum abläuft, kehren die IS-Terroristen in das Dorf zurück. Da die Êzîden nicht bereit waren zu konvertieren, sagte man ihnen, man würde sie daher ins Gebirge bringen. Wie die Christen müssten sie „lediglich“ ihr Hab und Gut abgeben.

„Dreizehn Tage waren wir umzingelt, niemand kam uns zur Hilfe. […] Gegen 9 Uhr am Morgen des 13. Tages kamen sie zu uns und redeten mit einigen unserer Leute. Um 11 Uhr riegelten sie das Dorf vollständig ab und trieben uns zusammen. Wir wurden in die Sekundarschule des Dorfes gebracht. Unser Geld, Gold und unsere Mobiltelefone nahmen sie uns weg. Die Frauen und Mädchen brachten sie in das obere Stockwerk, wir Männer, etwa 400, waren im unteren.“

In dem Dorf Kocho lebten Said Mirad zufolge 1.826 Êzîden. In der Grundschule stellen die IS-Terroristen die Êzîden erneut vor die Wahl.

„Sie sagten, jeder der Muslim werden will, solle seinen Finger heben. Er dürfe dann seine Familie mitnehmen und gehen. Keiner hob seinen Finger, wir wollten keine Muslime werden.“

Die Terrormiliz IS schafft Fahrzeuge herbei und belagert die Schule. Erneut fordert man die Êzîden auf, zu konvertieren. Jeder, der konvertiere, dürfe im Dorf bleiben und sein Eigentum behalten. Wieder lehnen die Êzîden ab. Said Mirad wird mit etwa 50 weiteren Männern auf einige der Fahrzeuge verladen.

„Die, die uns unser Hab und Gut wegnahmen, waren uns bekannt. Die, die uns unser Geld und Gold wegnahmen, kannten wir. Es waren die [Stammesangehörigen; Anm. d. Red.] Mitewta, Khatuni, auch die kurdischen Muslime aus Shingal sahen wir unter ihnen. Wir kannten sie alle, ausnahmslos. Keine ausländischen Kämpfer wie Tschetschenen oder Afghanen waren darunter. Wir kannten sie alle. Außer mir überlebten einige weitere, die sie ebenfalls kennen. Menschen die wir täglich begrüßten, einander die Hand reichten. Einer derjenigen, der mir in den Nacken geschossen hat, war mein Arbeitskollege [zeitlich versetzt; Ende des Videos].

„Als wir auf die Fahrzeuge stiegen, wussten wir, dass sie uns töten werden. Sie waren viele und hatten das gesamte Dorf umzingelt. Sie brauchten uns auch nicht in Richtung des Gebirges, sondern nach Siba (Südwestlich von Kocho; Anm. d. Red.). Sie hielten an und sagten wir sollen absteigen und zu dem Graben vor uns gehen. Wir mussten uns hinlegen.“

Den Männern ist bewusst, dass sie nun getötet werden. Sie sagen noch einmal das êzîdîsche Glaubensbekenntnis auf und werfen sich auf den Boden.

„Wenn wir wegen unserer Religion getötet werden sollen, dann soll es so sein. Jemand, der zu seiner Religion steht, stirbt nicht“, erzählt Said.

Die IS-Terroristen eröffnen mit schweren und leichten Maschinengewehren sowie Pistolen das Feuer auf die am Boden liegenden Männer. Said wird ebenfalls von mehreren Kugeln getroffen.

„Vier Kugeln trafen mich. Dann hörten sie für kurze Zeit auf. Einer meiner Freunde klagte vor Schmerzen, dann eröffneten sie erneut das Feuer auf uns. Zwei weitere Kugeln trafen mich. Zwei in mein Bein, eine in meine Hüfte, eine in meinen Rücken, eine in den Nacken und eine weitere hier [zeigt auf sein Steißbein; Anm. d. Red.]“.

Die IS-Terroristen kehren mit ihren Fahrzeugen ab. Als sie ihre Fahrzeuge starten, schaute Said Mirad auf und entdeckt einen Helikopter über dem Ort des Massakers. Er bleibt für mehrere Stunden, von 12 Uhr bis 20 Uhr, liegen und versteckt sich schließlich wenige Meter vom Graben entfernt.

„Von allen überlebten nur ein Freund und ich. Als wir uns versteckten, streute ich Sand in meine Wunden, um die Blutung zu stoppen. […] Verwundet machten wir uns gegen 20 Uhr auf den Weg zum Gebirge. Ohne Pause marschierten wir zum Gebirge und trafen auf eine Einheit der PKK.“

Said wird nach Zakho gebracht, wo seine Wunden behandelt werden und kehrt wenig später zurück, um sich den Widerstandseinheiten anzuschließen und gegen den IS zu kämpfen. Saids Wut ist unendlich. Er möchte Rache an den Terroristen nehmen, aber, so erklärt Said weiter:

„Ich bin zurückgekommen, um ihnen das anzutun, was sie uns angetan haben. Aber wir werden, wenn wir zurückkehren, keine Rache an den Frauen und Kindern nehmen. So etwas tuen wir nicht, unsere Religion akzeptiert ein solches Verhalten nicht. Keine Frauen und Mädchen. Keine Kinder. Unser Glaube toleriert dies nicht, wir sind Êzîden. Wer so etwas tut, hat keine Zukunft, kein Gewissen. Aber ich werde keinen der Männer am Leben lassen, wenn ich auf sie treffe“.

© ÊzîdîPress, 14. März 2015