Fotoalbum einer êzîdîschen Familie in den Trümmern der zerstörten Stadt Shingal (John Moore)
Fotoalbum einer êzîdîschen Familie in den Trümmern der zerstörten Stadt Shingal (John Moore)


Lalish. Vor zwei Jahren überrannten die Schergen des „Islamischen Staates“ (IS) den Norden des Iraks und eroberten innerhalb kürzester Zeit die Millionenmetropole Mossul. Seitdem terrorisiert die Miliz nicht nur den Irak und Syrien. Der Terror des IS ist global und hat seinen Weg längst auch nach Europa gefunden – ein Terror, mit dem die êzîdîsche Gemeinschaft seit Jahrhunderten leben muss.

Wenige Wochen nachdem Mossul an Terrorgruppe gefallen war, verübten die Gotteskrieger des IS am 3. August 2014 einen unvorstellbaren – aber vorhersehbaren und angekündigten – Völkermord an der êzîdîschen Zivilbevölkerung in der Shingal-Region. Selten war ein Völkermord in seiner Vernichtungsabsicht so offensichtlich. Der IS bekannte sich in seinem Magazin „Dabiq“ in jeglicher Hinsicht zu seinen Taten und machte den muslimischen Nachbarn der Êzîden gar den Vorwurf, wieso sie die Êziden nicht schon längst ausgerottet hätten. Ein Genozid, der bis heute kein Ende gefunden hat, die êzîdîsche Gemeinschaft entwurzelte und sie in eine tiefe Krise gerissen hat. Wir fassen die Ereignisse und den bisherigen Werdegang zusammen.

450.000 Flüchtlinge, damit ist jeder zweite Êzîde weltweit auf der Flucht
5.000 + ermordet (UN)
7.000 entführt (UN)
bis zu 3.800 Frauen und Kinder noch in Gefangenschaft
 bis zu 8.000 Voll- und Halbwaisen 

über 30 Massengräber bisher entdeckt
 Mehrere Dörfer stehen weiter unter IS-Kontrolle

Völkermord

„Es ist bereits ein Völkermord verübt worden und er geht weiter“,  Paulo Pinheiro, Leiter der UN-Kommission zur Untersuchung der Verbrechen des IS an Êzîden. 

Als in der Nacht vom 2. auf den 3. August die ersten Angriffe im Süden der Shingal-Region beginnen, flüchten die vermeintlich zur Sicherheit der Êzîden nach Shingal beorderten Peshmerga (mehrheitlich PDK-Milizen). Shingal ist das Hauptsiedlungsgebiet des êzîdîschen Volkes, wo rund 500.000 Êzîden der weltweit etwa 900.000 leben.

Die 11.000 in Shingal und Umgebung stationierten Peshmerga flüchten in der Nacht und am frühen Morgen, ohne die Zivilbevölkerung zu warnen oder ihnen wenigstens Fluchtmöglichkeiten offen zu halten. Der IS stürmt Dorf um Dorf, sunnitische Nachbarn der Êzîden unterstützen den Angriff der Terroristen. Êzîdîsche Freiwillige verteidigen für Stunden ihre Dörfer. Nachdem ihnen die Munition ausgeht, versuchen die Menschen sich auf das Gebirge zu retten und werden von den IS-Terroristen bei Temperaturen von über 40°C im belagertTagelang harren dort bis zu 60.000 Êzîden aus, viele sterben dabei.

Nach Angaben der UN werden in den Dörfern und Gemeinden mindestens 5.000 Êzîden ermordet und bis zu 7.000 Frauen und Kinder, darunter viele minderjährige Mädchen, verschleppt, versklavt und anschließend systematisch vergewaltigt. Die gefangengenommenen Männer und Frauen sollen zum Islam konvertieren, so etwa in dem Dorf Kocho. Dort ermorden die IS-Schergen etwa 600 Männer und verschleppten bis zu 1.000 Frauen und Kinder, nachdem diese eine Zwangskonvertierung ablehnen. Schätzungen zufolge werden etwa 1.000 êzîdîsche Jungen in militärischen Ausbildungslagern zu Selbstmordattentätern und Kämpfern des IS gedrillt.

Der UN-Menschenrechtsrat, das Europäische Parlament, die parlamentarische Versammlung des Europarates, die US-Regierung und das britische Parlament haben den Völkermord in nahezu allen Tatbestandsmerkmalen als solchen anerkannt. Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates blieben bisher aus. Êzîden fordern die Einsetzung eines Tribunals zur Verfolgung der IS-Terroristen vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Massengräber

In den befreiten Gebieten der Shingal-Region sind bisher über 30 größere Massengräber aufgefunden worden, in denen sowohl Männer, Frauen aber auch zum Teil Kinder hingerichtet wurden. Bis heute hat die UN, trotz Bitten der êzîdîschen Gemeinschaft, keine Experten zur Beweissicherung und Dokumentation der Massengräber für spätere Verfahren gegen IS-Mitglieder entsandt. Forensiker der kurdischen Regierung versuchen ihr Bestes, scheitern aber regelmäßig am fehlenden Equipment. In einem der Massengräber, das im Süden entdeckt wurde, lagen die Überreste von 80 Frauen. In einem weiteren nahe Shingal-Stadt bis zu 120. Zudem werden die Gräber nicht selten von Kämpfern, Journalisten oder nach ihren Angehörigen suchenden Êzîden verstellt, was eine spätere Beweissicherung erschwert.

Versklavung

„Huweyda ist erst 12 Jahre alt. Sie weiß nicht, was Vergewaltigung bedeutet – nur, dass sie blutend zu Bewusstsein kam. Der Mann, der sie kaufte, war alt, etwa 50 sagt Huweyda“, NBC Report.

Bis zu 7.000 Êzîden, überwiegend Frauen und Kinder, wurden entführt. Mit ihnen führte der IS die „islamische Tradition der Sklaverei“ ein, wie es in Dabiq heißt. Sie wurden in andere Teile des Iraks und nach Syrien verschleppt. Bisher konnten etwa 3.200 Frauen und Kinder befreit werden oder entkommen. Sie berichteten von Massenvergewaltigungen, Folter und Morden in den IS-Gefängnissen. In Gefangenschaft geborene Kinder wurden an muslimische Familien übergeben. Teilweise auf offener Straße, teilweise über soziale Netzwerke, bieten die IS-Terroristen die entführten ÊzîdInnen als Sklaven zum Verkauf an. Die systematischen Vergewaltigungen werden als psychologische Waffe gegen die gesamte êzîdîsche Gemeinschaft genutzt.

Weitere 3.500 Êzîden befinden sich noch immer, seit nunmehr zwei Jahren, in der Gewalt des IS. Mit ihrer Gefangenschaft hält auch der Genozid an und lässt die Êzîden nicht zur Ruhe kommen. Bis heute fehlen konkrete Maßnahmen, etwa Spezialoperationen des Militärs, zur Befreiung der Gefangenen. Êzîdische Familien zahlen fünfstellige Summen, um ihre Angehörigen freizukaufen, sofern die Möglichkeit besteht. Nach erfolgreichen Fluchten hat der IS die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, weswegen immer weniger Frauen und Kinder freigekauft oder entkommen können. Viele der versklavten Frauen und Kinder werden in den IS-Hochburgen Mossul und Raqqa vermutet.

Aber auch nach der Befreiung ist der Leidensweg für die ÊzîdÎnnen nicht beendet. Schwer traumatisiert müssen viele von ihnen ohne professionelle Hilfe in den Flüchtlingslagern ausharren. Nichts hat die êzîdîsche Gemeinschaft so dermaßen in ihren Grundfesten erschüttert, wie die Entführungen und die Vergewaltigungen. Die Meisten haben zudem ihre Angehörigen bei den Massakern in Shingal verloren.

Waisenkinder

Êzîdîsche Flüchtlingskinder aus Shingal im Flüchtlingslager von Esiya (Archiv)
Êzîdîsche Flüchtlingskinder aus Shingal im Flüchtlingslager von Esiya (Archiv)


Der Vernichtungsfeldzug des IS hat abertausende Kinder zu Halb- und Vollwaisen gemacht. Nicht selten mussten die Kinder erleben, wie vor ihren Augen Mutter und/oder Vater von IS-Terroristen getötet wurden. Nach offiziellen Angaben sind rund 3.000 Waisen zu beklagen, inoffizielle Schätzungen gehen von 8.000 Kindern und Jugendlichen aus. Viele der Kinder kommen zwar bei Verwandten unter, doch auch denen mangelt es an Allem. Daher bemühen sich die Êzîden, zunehmend Waisenhäuser zu errichten.

Massenflucht

„Dieses Land ist unser Grab“, êzîdîscher Flüchtling.

Flüchtlingskinder aus Shingal in einem Rohbau nahe Semel, Duhok.
Flüchtlingskinder aus Shingal in einem Rohbau nahe Semel, Duhok.


Der perfide Plan des IS, die êzîdîsche Gemeinschaft zu zerstören, ist offensichtlich aufgegangen. Rund 100.000 Êzîden haben den Irak bzw. die Autonome Region Kurdistan bereits verlassen – das sind rund 20% der Population. Über die Türkei und das Mittelmeer versuchen die Êzîden den sicheren Hafen Europa zu erreichen. Schätzungsweise 30.000 Êzîden haben alleine in Deutschland bereits Asyl beantragt – Tendenz steigend. Schon heute leben die 900.000 Êzîden auf vier Kontinenten in über 20 Staaten.

Zerstörung und politischer Machtkampf

Sicherheitskräfte durchqueren die zerstörte Stadt Shingal, auf dessen Ruinen immer mehr Flaggen aufgestellt werden (John Beck/Al Jazeera)
Sicherheitskräfte durchqueren die zerstörte Stadt Shingal, auf dessen Ruinen immer mehr Flaggen aufgestellt werden (John Beck/Al Jazeera)


Die traditionelle Heimat der Êzîden ist zudem politisch umkämpft. Zahlreiche politische Parteien und militärische Kräfte versuchen ihren Einfluss auf das in Shingal entstandene Machtvakuum auszuüben. Auf den Trümmern zerstörter Gebäude stellen alle als Zeichen ihrer Macht Partei- und Militärflaggen auf. Die Region ist heute de facto zweigeteilt: Im Westen regieren der PKK-nahestehende Gruppierungen wie die êzîdîsche YBŞ-Kampfeinheit. Sie befinden sich im Machtkampf mit der den Osten beherrschenden PDK, der Peshmerga und ihrer êzîdîschen Verbündeten.

Rund 85% der Infrastruktur der Region sowie Dörfer und Gemeinden sind zerstört. Der irakische Repräsentantenrat erklärte die Region zum Katastrophengebiet. Für den Wiederaufbau werden nach Einschätzung der Behörden etwa 150 Millionen Euro benötigt. An eine Rückkehr der vielen êzîdîschen Flüchtlinge ist daher nicht zu denken – auch aufgrund der noch immer instabilen Sicherheitslage.

Besetzte Dörfer 

Im Süden der Region stehen noch immer zahlreiche Dörfer, wie etwa Kocho, unter der Kontrolle der IS-Terrormiliz. Über die Gründe der bis heute nicht erfolgten Befreiung gibt es verschiedene Meinungen.

Existenzgefährdende Krise

Êzîdîsche Flüchtlingskinder in einem Flüchtlingslager in Midyat (Reuters)
Êzîdîsche Flüchtlingskinder in einem Flüchtlingslager in Midyat (Reuters)


Der Völkermord, der Verrat durch die Peshmerga sowie der politische Machtkampf haben die êzîdîsche Gemeinschaft entwurzelte und eine tiefe, existenzgefährdende Krise gestürzt. Ohnehin seit Jahrzehnten schwelende politische Fronten haben sich verhärtet, der Ton zwischen einzelnen Gruppierungen ist schärfer geworden. Gegenseitige Beschuldigungen und Vorwürfe drohen die Gemeinschaft auf weitere Jahrzehnte zu spalten. Der religiöse Rat der Êzîden ist angesichts der Herausforderungen und des politischen Drucks wie gelähmt.

Politische Parteien versuchen durch und mit den Êzîden ihre Ansprüche durchzusetzen. Vor allem die ältere Generation der Êzîden scheint nicht begreifen zu wollen, dass diese Krise tatsächlich zum Untergang der êzîdîschen Gemeinschaft führen kann. Und mit ihnen ein altes Erbe mesopotamischer Kultur.

Helden der ersten Stunde entpuppten sich letztlich erneut als treue Parteimitglieder – einer der Gründe, die diese Krise erst ermöglichte. Es sind daher vor allem junge Aktivisten wie Nadia Murad, die den Êzîden neue Hoffnung schenken und die Verantwortung für ihre Gemeinschaft übernehmen.

© ÊzîdîPress, 31. Juli 2015